Die Zwillinge Mark und Christian (12) aus Frankfurt strahlen über das ganze Gesicht. Sie hatten ihrem Vater so lange in den Ohren gelegen, bis er sie ins Auto packte und extra wegen der Modelleisenbahn nach Hamburg fuhr. „Und wie ist’s?“, frage ich. „Einfach Klasse“, sagt Mark. „Habt Ihr euch das so vorgestellt?“ „Nein“, antwortet Christian, „das ist alles viel toller als man sich das überhaupt vorstellen kann.“ „Und was gefällt Euch am besten?“ Die Antwort ist kurz und knapp: „Alles.“
Dem kann ich mich nur anschließen. Nicht aus Mangel an Beobachtungs- gabe oder Worten, sondern wegen der Perfektion in jedem Detail und der Vielzahl von Geschichten, die daraus entstanden sind. Tage würden nicht ausreichen, um sie alle zu entdecken. Erzählt werden Begebenheiten aus dem richtigen Leben. Ihre Darstellung ist so realistisch, dass man fast vergisst, dass es sich hier um eine künstliche Welt handelt. Dass in dieser Spielzeugwelt 500 Züge mit 7000 Anhängern über 5 Kilometer Gleise einschließlich 1000 Signalen und 1000 Weichen fahren, gerät fast schon zur Nebensache. Die traumhafte Modellbaulandschaft mit ihren 30.000 Figuren und 10.000 Autos (3000 vorne und hinten mit Licht ausgestattet!!!) ist allein schon ein Erlebnis der Superlative.
Mark und Christian haben ihre Cola ausgetrunken. „Los“, sagen sie zu mir, „wir schauen mal, ob sie die Gefängnisausbrecher schon gefasst haben.“ Aus dem Gefängnisfenster baumeln noch die aneinander geknoteten Laken. Solche „Seile“ führen auch ins Gebirge. Die Polizei ist den Entflohenen dicht auf den Fersen. Doch erwischt haben sie diese noch nicht.
Friedlich und heiter geht es im Hochgebirge, den Alpen, zu. Die Gondelbahn schwebt übers Tal dem Gipfel entgegen, Skifahrer tummeln sich auf der Piste, in zwei Stadien ziehen Eisläufer ihre Kreise und selbstverständlich fehlt auch die Sprungschanze nicht. Auf einmal dämmert es und die Nacht bricht herein. Über den Eisläufern gehen die Lampen an, im Berghotel erstrahlt das Licht, und auch die Fenster der Almhütten sind jetzt erleuchtet. Nicht auf einmal, sondern nach und nach werden die Lämpchen angeschaltet. Nach vier Minuten erlischt ein Licht nach dem anderen, erst dämmert es, dann wird es Tag. 15 Minuten später gehen erneut die Lichter aus. Wieder geht ein Tag im Miniatur-Wunderland zu Ende.
Auf der schneefreien Sonnenseite der Alpen haben die Wanderer ihre Stiefel geschnürt und folgen dem Wanderwegschild. „Guck mal, da springt eine Gämse“, sagt Mark. „Ja und da eine Ziege. Und schau mal, auf dem Almbauernhof säugt die Sau ihre Ferkel und die Kuh wird gerade gemolken“, ergänzt Christian. Etwas weiter wird ein Baum gefällt. Auf einer Bank haben zwei müde Wanderer Platz genommen. Ein Pärchen. Kein Wunder in der Wunderwelt. Denn (Liebes-) Pärchen gibt es hier allerorten. Ausdruck für die Liebe, mit der die Modellbauer hier jeden Millimeter bei der Sache waren? Natürlich befindet sich auch ein Panoramarestaurant in der Bergwelt, genau da, wo die Rettungshubschrauber stationiert sind.
"Hast Du schon gesehen, wie's brennt?" fragt mich Christian. Auf einem Bergsporn thront ein opulentes Barockschloss. Sein Französischer Garten ist eine einzige Pracht. Touristen spazieren zwischen den Parterres, eine ganze Gärtnerschar sorgt sich penibel um die geometrische Pflanzenkunst. Plötzlich unterbricht Rauch die Idylle. Feuer im Schloss! Die Feuerwehr rückt ein, fährt vor und zurück, holt sich Verstärkung. Polizei sichert das Terrain. Wie von Geisterhand gelenkt, gleiten die Wagen über die Straße, blinken, leuchten, geben Signale. Die Autos besitzen kleine Schleifer mit winzigen Magneten. Diese tasten sich an unsichtbar an den in die Fahrbahn eingearbeiteten Metallfäden entlang. Alle weiteren technischen Details sind Geheimnis. Kaum ist der Brand im Schloss gelöscht, brennt's in der Stadt. Erst in einem Zimmer, dann auch nebenan. Wieder ist die Feuerwehr unterwegs, sperrt die Polizei die Straßen. Nicht nur um das herrliche Schloss wäre es schade gewesen, sondern auch um das schöne Wohnhaus in der alten Stadt, wo jeder Bau für sich sehenswert ist.
Szenenwechsel: Die Landschaft wird lieblicher und macht dem Landleben Platz. „Schau, da sind Autos mit Anhängern auf eine Weide gefahren, um die Pferde zu verladen“, sagt Mark. „Wollen die nun zum Turnier fahren oder nur einen Ausritt machen?“ Wir schauen ganz genau hin. Aber leider, die Kleidung der Menschen verrät es uns nicht. Etwas weiter werden Kühe über die Straße getrieben. Wer Bauer ist muss arbeiten. Da haben die Ausflügler, welche die Tische in den Gartenlokalen besetzen, an diesem Tag mehr Glück. Auch auf den Campingplätzen genießen Urlauber den Sommer, spielen Minigolf oder gehen an den Strand. An Flüssen und Seen wird sich gesonnt und gebadet, und das sogar nackt. Ein Hochzeitspaar lässt sich fotografieren. Idylle pur? Nur ein paar Schritte weiter ist die Katastrophe perfekt. Hinter dem Rücken des glücklichen Paars treibt leblos ein Mann in dem friedlichen Flüsschen. Taucher sind zur Stelle. Doch sie können nur noch die Leiche bergen.
"Da läuft einem ja ein Schauer über den Rücken", sagt Christian. Wir gehen weiter, blicken ein wenig nach unten und entdecken hinter einer Glasscheibe eine Tropfsteinhöhle. Da ist auch ein Schalter, und schon erscheint das Wunder der Natur in Blau und Rot. „Ist die Höhle im Harz?“ fragt Christian. „Schon möglich“, antworte ich. „Doch das Miniatur-Wunderland ist eine Fantasielandschaft“. „Aber nicht der Teutoburger Wald“, sagt Mark und hat recht. Denn nur dort steht genau so wie im Miniatur-Wunderland das Denkmal des siegreichen Cheruskerfürsten Hermann, der im Sommer des Jahres 9 nach Christus die römischen Truppen bei Kalkriese vernichtend schlug. Zu seinen Füßen sind die Reihen des Amphitheaters der Freilichtbühne voll besetzt. Die Zuschauer blicken jedoch nicht zum Hermann auf, sondern auf die Bühne herunter. Es ist gerade Vorstellung.
Bald schon ist es auch hier mit der Idylle wieder vorbei. An einem Hang halten Panzer Truppenübungen ab, dort kämpfen Kumpel um den Erhalt ihrer Zeche, und an anderer Stelle brennt der Wald. Dazwischen fällt der Blick auf ein geschäftiges kleines Städtchen. Auf dem Hauptplatz ist gerade Wochenmarkt. Jenseits der Geleise sorgt eine Kirmes für Unterhaltung. „Mit der Achterbahn würde ich jetzt auch gerne fahren“, meldet sich Christian wieder zu Wort. „Ich bevorzuge das Riesenrad“, denke ich im Stillen, „oder gehe doch lieber gleich ins Festzelt.“
"Sieh mal", ruft Mark ganz aufgeregt, „da wird richtig geschweißt.“ Ich drehe mich um. Tatsächlich. Bei der Anfertigung eines Stahlgerüstes für Betonfertigteile stieben echte Funken. Der emsige Schweißer ist nur einer der Arbeiter in dieser Fabrik. „Das kann nicht wahr sein“, höre ich jetzt von Christian. Doch wir täuschen uns nicht. Da schwebt ein Ufo gen Himmel, nachdem es auf dem Kornfeld seinen typischen Kreis hinterlassen hat. Wie im richtigen Leben? Ach, wer weiß schon immer so genau, was wirklich wahr ist.
Wahr ist jedenfalls, dass es in Deutschland eine Million Modelleisenbahnbauer gibt und die zu 95 bis 98 Prozent männlich sind. In Hamburg ist das ganz anders. Und das ist wohl das Wunder überhaupt im Miniatur-Wunderland: Die größte Computer gesteuerte Modelleisenbahn der Welt gehört zu den spannendsten und unterhaltendsten Erlebnissen an der Elbe für die ganze Familie. Den Weg ins Obergeschoss des Lagerhauses Kehrwieder 2, Block D, in der historischen Speicherstadt (U-Bahn-Station Baumwall) haben allein im ersten Jahr seit der Eröffnung am 16. August 2001 bereits 300.000 Besucher gefunden – trotz Wartezeiten von einer halben Stunde und mehr (frühes Kommen lohnt sich!). Denn eines ist sicher: Jedem, der Stunden später den roten Backsteinbau verlässt, glänzen die Augen.
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