von Hans Joachim Rech |
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Valle Camonica-Das Tal der Camonen
Niemand hätte vor sechstausend Jahren daran gedacht, dass in ferner Zukunft ein Tal irgendwo in den Südalpen den Namen seiner Bewohner tragen würde. Am wenigsten die Camuni, die mehr als viertausend Jahre vor der Zeitwende jenes idyllische Tal zwischen dem heutigen Lago d'Iseo und dem Passo del Tonale besiedelten. Fleißige und geschäftstüchtige Leute müssen sie gewesen sein, die ersten sesshaft gewordenen Nomaden im Schatten der mächtigen Gebirgsmassive. Mehr als fünfzig Kilometer in der Länge misst seine Ausdehnung, bis der Besucher aus dem Raum Bergamo oder Brescia kommend den Scheitel am Passo del Tonale erreicht. Fünfzig aufregend-virtuose, abwechslungsreiche, liebliche und dramatische Kilometer liegen vor dem Reisegast, bis er endlich den höchsten Punkt der Straße in der Adamello-Gruppe unweit von Ponte di Legno hinter sich lässt. Wer nun glaubt, diese üppigen Attribute seien Erfindungen der Neuzeit, der irrt sich tüchtig. Schon die steinzeitlichen Jäger, Hirten und Nomaden ließen sich vom Flair dieses Tales, seiner Schönheit und paradiesischen Vielfalt inspirieren. Ihre Eindrücke waren so impressionistisch, dass sie diese gleich zu Tausenden in die Felsen des Tales meißelten. Mehr als 130000 "Felsgravuren" sind bislang entdeckt worden, und ein Ende weiterer Funde ist nicht abzusehen. Die Masse aller Darstellungen findet sich bei Capo di Ponte, Cemmo und Pescarzo, kleinen Bergdörfern unweit von Darfo Boario Terme. Im Nationalpark der Felsgravierungen sind die Hinterlassenschaften unserer Vorfahren hautnah zu besichtigen.
In grauen Sandstein geschnitten legen sie Zeugnis ab von einem Volk und seiner Kultur, dass es im Laufe seiner Existenz zu Handelsbeziehungen mit den Imperien der Mykener und Etrusker brachte. Die geistig-kulturelle Befruchtung muss beeindruckend gewesen sein, denn nach Erlernen der Schrift begannen die Camuni, so die Namensgebung durch die Römer, mit der Aufzeichnung ihrer Lebensgeschichte. Diese endete abrupt im Jahre 16. vor Christus, als die römischen Legionen durch dieses Tal Richtung in Norden zogen. Die schöpferische Vielfalt der Menschen lässt sich anhand der Felszeichnungen nur erahnen, und bis heute sucht und forscht man vergeblich nach weiteren materiellen Überresten aus dieser Zeit. Weder Gräber noch Gerätschaften oder Handwerkszeug fanden sich im Lebensraum des Valle Camonica. Darfo Boario Terme
Vorbei an der Ufern des Lago d'Iseo folgt man einfach dem Lauf des Fiume Oglio(Fluss Oglio) hinein in das Tal Camonica. Die beschauliche Weite der Ebene zwischen Bergamo und Brescia wechselt zunächst in leicht welliges Voralpenland, bevor die Provinz Brescia unübersehbar ihren Felsen- und Gebirgsgarten vor den Augen des staunenden, zuweilen sprachlosen Besuchers wie eine gewaltige, steinerne Barriere auftürmt. Das Tal wird enger, die Berge rücken bedrohlich nah an die Straße heran, und die unbeschwingte Leichtigkeit der Landschaft liegt endgültig hinter uns. Gewerbegebiete und Folienplantagen säumen den Trichterbereich des Tales bis fast hinauf nach Boario Terme, wo ein weit über die Grenzen der Provinz und Norditaliens hinaus bekanntes Heilbad seit Jahrhunderten von sich reden macht. Schon die Camonen (Camuni) wussten um die wohltuende und heilende Wirkung der mineralhaltigen Wasser in ihrem Lebensraum. An keiner anderen Stelle des Tales war zudem die Konzentration an Wild so hoch, wie gerade hier.Die Quellen dienten dem jagdbaren Wild nicht nur als Tränke, sondern auch als hochwertige Versorgung mit lebenswichtigen Mineralien. Und was den Tieren wohl bekommt, so die steinzeitliche Logik, kann für den Menschen nicht schlecht sein. Diesen Überlegungen folgten auch die Römer, die im Jahre 16.v.Chr. das Alpenland und damit auch das Valle Camonica besetzten. Die Camonen verloren ihre Autonomie und gingen schließlich unter. Ausgrabungen beweisen, dass zu Zeiten des Kaisers Augustus, Tiberius und Trajan im Raum um Boario Terme reges Treiben geherrscht haben muss. Badeeinrichtungen mit allem damals denkbarem Komfort stellte das Imperium Romanum seinen geliebten Konsuln, ihren Familien und den gebeutelten Legionären zur Verfügung. Bienno
Wie Schwalbennester kleben die typischen Vierkanthäuser Norditaliens in den Hanglagen der Adamello-Gruppe. Nur über eine Nebenstraße zu erreichen, macht Bienno den Eindruck eines vergessenen Dorfes, wäre da nicht dieses, dumpfe, rhythmische Schlagen, das die hörbare Stille des Ortes erzittern lässt. Durch verwinkelte, schattierte Gassen, in denen das Mittelalter lebendige Wirklichkeit ist, folgen wir diesem Geräusch bis zu seinem Ursprung. Nicht so einfach, wie es sich hier liest. Aber dann ist es geschafft. Wir stehen vor einer der letzten Schmieden Biennos, wo aus glühendem Eisen, nur durch die Kraft des Wassers, den Einsatz schmiedeeiserner Hämmer und handwerkliches Geschick Werkzeuge und Arbeitsgeräte des täglichen Bedarfs werden. Hacken, Sensen, Schaufeln, Spaten, Kessel, Eimer und Töpfe. Das Wasser ist allgegenwärtig. Noch vor wenigen Jahren bezogen alle Einwohner Biennos ihr Trinkwasser aus den natürlichen Quellen des Adamello Gebirges. Es rauscht und braust an allen Ecken, was zum Entstehen von Mühlen und Schmieden entscheidend beitrug. Die andere wichtige Zutat war Erz - zunächst Kupfer, später Eisen, das in den umliegenden Bergen in großen Mengen abgebaut wurde. In der Hochblüte Biennos sausten in 15 Schmieden Tag und Nacht die Hämmer nieder. Verblieben sind 3, die sich um den Erhalt des Handwerks und um das Bewahren der Tradition bemühen. Auch mit dem Erz ist es nicht mehr weit her. Die heutigen Schmiedebesitzer beziehen ihren Schmiedestahl(Halbfertigware) von Auswärts. In den Schmiedeöfen wird das Material bis zur Weißglut erhitzt, um dann unter den Schlägen des Hammers seine vorläufige Form zu erlangen. Ein paar Kleinigkeiten wie Dengeln, schleifen, sintern und polieren schließen sich an. Dann ist die neue Hacke, Schaufel, der Topf oder Eimer fertig. Von morgens bis abends - die ganze liebe Woche lang. Esine Etwa auf halber Strecke zwischen Boario Terme und Bienno gelegen, bietet die Ortschaft Esine dem Reisenden ein nicht minder pittoreskes und folkloristisches Ambiente. Am Fluss Oglio gegründet, trat dieser Marktflecken schon früh aus dem Schatten des Valle Camonica heraus. Zahlreiche Künstler (unter anderem die Maler der Schule von Brescia) ließen sich hier nieder und schufen prachtvolle Kunstwerke, die alle Stürme der Zeit überdauerten. Wie in Bienno, so hat auch in Esine Giovanni Pietro aus Cemmo dem Sakralbau S. Maria Assunta seinen Malstil aufgelegt. Die Ausschmückungen der Altäre mit plakativen Ölgemälden sowie die reiche Ausstattung des Altarraumes, der Decken und Wände mit kraftvollen Fresken, sind wahre Meisterwerke des Mittelalters und legen Zeugnis ab von der hohen Schule der Malerei. Nicht minder interessant, dafür beschaulich-weltlich gibt sich Esine mit seinen Gässchen und Plätzen, auf denen trotz spürbarer Abgeschiedenheit ein fröhliches Leben herrscht. Die zahlreichen Osterias, Trattorias, Cafes und Bistros, die sich wie bunte Frühlingstupfer zwischen die Handwerker- und Künstlerläden drängen, tragen ein gerüttelt Maß zu dieser angenehmen Lebhaftigkeit bei, die dem Touristen das greifbare Mittelalter noch näher bringt, als es schon ist. Cerveno Richtung Nordosten, dem Lauf des Oglio talaufwärts folgend, gelangt der Reisende nach Cerveno am Fuße der Cima della Bacchetta. Ein Bergnest, wie es verlorener nicht sein könnte. Eine einzige, schmale Straße windet sich in Schlingen und Serpentinen steil bergan, bis der geplagte Autofahrer endlich auf einem kleinen Platz nahe der Wallfahrtskirche aussteigen und tief ausatmen kann. Bedrohlich türmen sich die mehr als 2000 Meter des Il Cornone im Rücken des Dorfes aus, und Teile des gewaltigen Massivs schieben sich wie scharfkantige Keile zwischen die Häuser Cervenos. Hier leben die Einwohner in der Tat im Schatten des Berges. Viele sind es nicht, knapp 250. Dafür hat Cerveno jedoch eine Geschichte, die noch in diesen Tagen dem modernen Menschen einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Noch vor 150 Jahren wurde in Reiseführern davor gewarnt, schwangere Frauen nach Cerveno zu bringen. Der Anblick der Einwohner würde die werdende Mutter derart Entsetzen, dass das Ungeborene Schaden nehmen könnte. Wer sich in der Wallfahrtskirche den Kreuzweg von Beniamino Simoni und den Brüdern Donato und Grazioso Fantoni(17.Jahrhundert)genau ansieht wird feststellen, dass die Gesichter der Bewohner des Ortes eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Lebenden von Cerveno haben. Tradition verpflichtet - oder ist es die Abgeschiedenheit Cervenos und sein Ruf, dass niemand aus dem Umland und der Lombardei bereit ist, dorthin zu ziehen? Trotz aller Unkenrufe hat sich Cerveno der neuen Zeit geöffnet und bietet Besuchern neben preiswerten Quartieren eine geschichtsträchtige Umgebung, in der sich noch so manche hochkarätige Entdeckung machen lässt. Braone Unweit von Cerveno, im Talgrund des Oglio, liegt die Holzschnitzerwerkstatt Artigianato Camuno del Legno. Die Palette des Handwerksbetriebes umfasst beinahe alles an Gebrauchsgegenständen des häuslichen Bedarfs und Zierrat. Ob Wandschmuck, figürliche Darstellungen, Küchengeschirr, Spielzeug, Möbel oder sakrale Gegenstände; alles fertigen die Künstler nach alten Schablonen bzw. aus dem Kopf heraus. Verarbeitet werden Eiche, Pinie, Zeder, Ahorn, Lärche und Eibe. Ein Großteil der Produkte wird nach Beendigung der Holzbearbeitung kunstvoll bemalt und in einer ansprechenden Ausstellung den Besuchern präsentiert. Die UNESCO hat diese Art der Holzbe- und Verarbeitungstechnik in ihr "Programm zum Erhalt nativen und ursprünglichen Kunsthandwerks" aufgenommen. Capo di Ponte Der Nationalpark der Felsgravierungen, so die offizielle Bezeichnung für eine der archäologisch interessantesten und paläontologisch bedeutendsten Regionen nicht nur im Valle Camonica, sondern in Europa, wartet mit mehr als 130000 Felszeichnungen- und Gravuren auf. Sechstausend Jahre sind sie alt, die Steingravuren auf den Sandsteinfelsen von Capo die Ponte. Bilder-Lesebücher der ersten Siedler, von den Römer später Camuni genannt. In ihren Darstellungen beschreiben die Künstler im Stil von frühzeitlichem Comic ihre Erlebnisse im Tal und Umland, das Leben im Dorf sowie ihre Unternehmungen und Reisen, die Teile des Volkes bis in die Reiche der Mykener und Etrusker führten. Umfangreiche Reinigungen und Restaurierungen haben die Kostbarkeiten der steinzeitlichen Jäger, Hirten und Nomaden sichtbar gemacht. Über Rundwege und Holzstege ist dem Tourist der Zugang in das Felsenlabyrinth erschlossen worden. Wer sich zudem über das Leben der Menschen in jener Zeit ein umfassendes Bild machen will, dem sei der Besuch des Archeoparks in Boario Terme empfohlen. Dort wurde an einem See die naturgetreue Nachbildung eines Pfahldorfes rekonstruiert, wie es um Tausend vor Christus in diesem Tal etliche gab. Agriturismo
Il Riccio Ferien auf dem Bauernhof - und doch nicht nur oder nicht ganz. Je nachdem, von welcher Seite man seinen Aufenthalt in einem dieser Einrichtungen auf dem Lande betrachtet. Wie auch immer; ob eine Übernachtung oder gleich eine ganze Woche, ein Agriturismo ist in jedem Fall ein Erlebnis. Das gilt sowohl für den Individualisten als auch für die Familie. Ehemalige Gutshäuser, Bauernhöfe oder einfach verlassene Gebäude stadtfern und in ländlicher Idylle, wurden von ihren neuen Besitzern liebevoll im Bau- und Einrichtungsstil der Region restauriert und instandgesetzt. Dafür gab es Gelder von der EU. Einzige Bedingung: Sechzig Prozent des Lebensunterhaltes müssen durch Eigenleistung - sprich Agrarwirtschaft, gleich welcher Art auch immer, erwirtschaftet werden. Der Rest ist durch das Angebot an Übernachtung und Verköstigung zu gewinnen. Eine Idee, die beeindruckende Früchte trägt. Dabei sind die Agriturismo nicht zu verwechseln mit Jugendherbergen oder Garni Hotels. Es ist eine gesunde Mischung entstanden aus Bauernhof mit Restauration und Hotel mit regional zuträglichem Freizeitangebot. Hierzu zählen Radwandern und reiten ebenso wie Wildwasserfahren und Paragliding oder Trekking. Die Übernachtung erfolgt in separaten Gästehäusern, die dem erholungssuchenden Gast alles bieten, was zu einem modernen Beherbergungsbetrieb gehört, ohne dabei in luxuriöse Schwelgerei zu verfallen. Zweckmäßig, ordentlich und sauber, wobei das Augenmerk der Agriturismo ohnehin auf der Bewirtung liegt. Wer nach einem ausgefüllten Urlaubstag zum Abend hin in sein Quartier zurückkehrt, der will auf eines ganz sicher nicht verzichten; ein herzhaftes Abendessen. Und das wird nach Art der regionalen Küche bestens geboten. Ponte die Legno
Passo del Tonale Schon von weitem sind sie sichtbar - die Bergriesen der Adamello- und Ortler-Gruppe. Weithin leuchten ihre eisigen Häupter in der funkelnden Sonne Italiens, und je näher man den Königen der Lombardei und des Trentino kommt, um so gewaltiger und erdrückender wird ihre All macht. Klein und verloren fühlt sich der Mensch ob dieser alpinen Riesenhaftigkeit. Gut eine Stunde dauert die Anfahrt von Borno, einer Kleinstadt am Fuße des Pizzo Camino und Monte Mignone talaufwärts nach Ponte die Legno. Das Davos des Valle Camonica, das St. Moritz der Lombardei, so wird dieser Hauptwintersportort des Tales auch genannt, wo der Skizirkus von November bis in den April hinein fröhliche Urständ feiert. Seine exponierte Lage inmitten eines grandiosen Bergpanoramas bescherten dem Städtchen stetig steigendes Wachstum - zu Lasten der anderen Ortschaften, die von den Schnee- und Gletscherfreaks nur als Durchgangsstationen benutzt wurden. Das hat sich geändert, die Bebauung des Raumes um Ponte die Legno wurde kontingentiert. Nur wer alle gesetzlichen Auflagen erfüllt, kann eine Baugenehmigung erhalten. In besonderem Maße zählt hier die Sicherheit der Berghänge und der angrenzenden Ortsteile, die andernorts im alpinen Raum oftmals sträflich vernachlässigt wurde. Brescia
Provinzhauptstadt in der Ebene südöstlich des Lago d'Iseo. Ehemals steinzeitlicher Lagerplatz, dann keltische Siedlung. Von den Römern wurde Brescia über die Jahrhunderte zu einem zentralen Markt- und Verkehrsknotenpunkt in der späteren Lombardei ausgebaut. Zahlreiche bauliche Funde und künstlerisch unschätzbar wertvolle Artefakte wurden bei Ausgrabungen, die noch lange nicht abgeschlossen sind, sichergestellt und einem interessierten Publikum in verschiedenen Museen der Stadt zugänglich gemacht. Besonders die Hinterlassenschaft der Langobarden, die als Erben und Nachfolger des römischen Reiches von Ungarn kommend über die Alpen nach Norditalien eindrangen, haben diese Region Italiens nachhaltig geprägt, und ihr geistig-kultureller Einfluss ist bis zum heutigen Tage allgegenwärtig. Brescia kann daher ohne Übertreibung als das Tor nach Rom angesehen werden. Das die frühen Siedler die Ebene um Brescia auch nutzten um ins Valle Camonica zu gelangen, ist nur zu verständlich. Wer sich auf die Spuren der Langobarden und Camoni begibt, wird ein Vielfaches von dem entdecken, was in diesem Reisebericht beschrieben wurde. Auf diesen Wegen begleiten Sie meine besten Wünsche.
GAL - Gruppo di Azione Locale Valle Camonica s.r.l. Für Sie entdeckt und zusammengestellt durch EPS-Schäffler / KörnerFotos: Hans Joachim Rech, Renate Schäffler, Marcel Schäffler, Fremdenverkehrsverband der Region Valle Camonica GAL - Gruppo di Azione Locale Valle Camonica s.r.l., Renata Bellotti, Archivio Magnolini, Flavio Marini, Leo Milani, Walter Belotti. |