Palliativmedizin
in der Hausarztpraxis



Die Bedeutung der Palliativmedizin in der Primärversorgung

Ulrich Weigeldt



Die Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden war schon immer eine wesentliche Aufgabe des Hausarztes. Hausärzte waren zuständig von der Geburt ("prakt. Arzt und Geburtshelfer") bis zum Tod. Viele Faktoren haben dazu geführt, dass die hausärztliche Medizin sich gewandelt hat. Vor allem die Fortschritte in der medizinischen Technik haben zu einer stärkeren Differenzierung der Medizin geführt. Diese war sicher für die Entwicklung der modernen Medizin und ihrer Erkenntnisse erforderlich. Um so stärker wird gerade heutzutage deutlich, dass die Integration dieser Kenntnisse, die Koordination der Angebote und die emotionale und persönliche Betreuung und Begleitung unserer Patienten eine tragende Säule der gesundheitlichen Versorgung sein muss.

Während die Begleitung Schwerkranker, Sterbender und ihrer Angehörigen früher ein Ergebnis aus Erfahrung und Intuition war, hat die Wissenschaft mittlerweile auch diesen Medizinbereich durchdrungen und enttabuisiert.

Die wissenschaftliche und strukturierte Behandlung des Themas Palliativmedizin wird auch wegen der Fortschritte der Medizin in Grenzbereichen gefordert. Die Möglichkeiten der Intensivmedizin, der assistierten Ernährung, letztlich der Aufrechterhaltung von Leben müssen in Einklang gebracht werden mit den Lebenszielen und Wünschen unserer Patienten und ihrer Angehörigen. Die erweiterten medizinischen Möglichkeiten und Optionen machen eine Struktur erforderlich, die dadurch sich eröffnenden Alternativen zu beurteilen und die "richtigen" Entscheidungen gemeinsam mit Patienten und Angehörigen zu treffen. Der Autorenkreis des Manuals Palliativmedizin hat sich mit dem vorliegenden Werk das Verdienst erworben, die vielfältigen Aspekte der Palliativmedizin für die Hausärztinnen und Hausärzte strukturiert und vollständig dargestellt zu haben. Dieses Manual wird in Zukunft in keiner Hausarztpraxis fehlen und für Lernende wie für gestandene Praktiker ein wertvolles Instrument sein, die Qualität hausärztlicher Betreuung von Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen weiter zu fördern.

Das Manual reiht sich ein in eine mittlerweile schon zur Tradition gewordenen berufsbegleitenden Fortbildungsaktivität des Deutschen Hausärzteverbandes. In Kooperation mit beteiligten ärztlichen Fachgruppen und nichtärztlichen Partnern werden die Kernthemen hausärztlicher Tätigkeit auf den neuesten Stand gebracht und in anwendbarer Form für die hausärztliche Praxis aufbereitet. Der Erfolg der Manuale bei den Hausärztinnen und Hausärzten gibt diesem Konzept Recht. Wir sind froh, mit dem vorliegenden Manual Palliativmedizin wieder eine Lücke schließen zu können und ein wichtiges und traditionelles Gebiet hausärztlicher Medizin in die strukturierten Fortbildungsaktivitäten einbeziehen zu können.

Palliativmedizin in der Hausarztpraxis Interdisziplinarität in der hausärztlichen Palliation

Prof. Dr. Klaus Wahle


Immer schon, von Anbeginn der Medizingeschichte an, ist es die Aufgabe der Hausärzte gewesen, ihre Patienten bis zum Tod zu begleiten. Im Laufe der Entwicklung von Krankheit wird die Frage gestellt werden müssen, wer nun über Leben und Tod entscheidet.

Im Laufe der Entwicklung von Krankheit werden der Hausarzt und sein Patient gemeinsam die Entscheidung treffen, die das Ende der Kuration und den Beginn der Palliation bedeutet.

Oder, um es anders auszudrücken: das Sterben konfrontiert uns Ärzte mit den Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten.

Palliativmedizinische Betreuung bedeutet somit im optimalen Fall die aktive totale Betreuung von Patienten, deren Krankheit nicht kurativ behandelbar ist. Hierbei werden die Ärzte nicht nur von ihrem eigenen Selbstverständnis das Leben und den Tod betreffend getragen, sondern auch in den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung unterstützt.

Palliativmedizin und Sterbebegleitung in der hausärztlichen Praxis bestehen daher in Wesentlichen in der

    * Diagnosemitteilung
    * Schmerztherapie
    * Begleittherapie
    * Ernährung
    * Organisation der Pflege
    * Förderung des Wohlbefindens des Patienten
    * Angehörigenbetreuung
    * Klärung ethischer und juristischer Fragen


Das Ziel der hausärztlichen Palliativmedizin besteht darin, ein Maximum an Lebensqualität für die Patienten und ihre Familien zu ermöglichen. Nur beispielhaft seien einige Bereiche der Palliativmedizin genannt, die häufig nur im interdisziplinären Team durchgeführt werden können, um das zuvor genannte Ziel erreichen zu können:

* Eine effiziente Schmerztherapie ist in gerade in der letzten Lebensphase eine medizinische Herausforderung für jeden Hausarzt. Nicht selten suchen daher die Hausärzte fachliche Unterstützung bei den Schmerztherapeuten oder auch den Schmerzambulanzen. Dabei muss es das Ziel sein, eine weitestgehende Schmerzfreiheit für den Patienten zu erzielen.


* Die Pflege von Patienten in dieser letzten Lebensphase stellt auch an das Pflegepersonal und die betreuenden Angehörigen höchste Anforderungen, die nur in enger Kooperation bewältigt werden können. Frühzeitige Beratung, die Organisation von Hilfsmitteln, die mögliche Hinzuziehung weiterer Angehöriger oder Nachbarn sowie auch die rechtzeitige Entlastung erschöpfter Angehöriger durch Einweisung des Patienten auf eine Palliativstation sind geeignete Maßnahmen, zusätzliches Leiden durch unzureichende pflegerische Betreuung zu verhindern.


* Ein wesentliches Ziel der palliativmedizinischen Betreuung besteht auch in der Erhaltung der Mobilität und allgemeinen Beweglichkeit des Patienten, um Abhängigkeiten von anderen möglichst gering und das Selbstwertgefühl möglichst hoch zu halten.


* Gerade die psychische Betreuung des Patienten und insbesondere auch seiner Angehörigen nimmt mit zunehmender Dauer der präfinalen Phase an Bedeutung zu. Sie schafft nicht nur psychische und emotionale Entlastung, sie stabilisiert auch und ermöglicht somit die Fortführung der Angehörigenpflege und fördert beim Patienten Selbstachtung und Lebensmut.

Es wird deutlich, dass in einer umfassenden palliativmedizinischen Betreuung der Hausarzt auf Unterstützung und kooperative Zusammenarbeit mit weiteren ärztlichen und nicht-ärztlichen Partnern angewiesen ist, um dem Ziel, ein Maximum an Lebensqualität für die Patienten und ihre Familien zu ermöglichen, gerecht zu werden. Hausärztliche palliativmedizinische Betreuung erfordert daher ein interdisziplinär zusammenarbeitendes Team, das unter der koordinierenden Führung des Hausarztes bestrebt ist, Leiden zu lindern und ein Sterben in Würde zu ermöglichen.

Tod ist der Endpunkt eines Krankheitsprozesses und Sterbebegleitung somit eine zutiefst hausärztliche Aufgabe. Sie zu lösen, macht es für jeden Hausarzt erforderlich, in seinem Einflussgebiet (Sprengel) ein palliativmedizinisches Team zusammenzustellen, auf das dann jederzeit und im Einzelfall rasch zurückgegriffen werden kann.

Palliativmedizinische Betreuung durch den Hausarzt ist immer wieder eine Herausforderung und enorme psychische Belastung. Auch Hausärzte sind nur Menschen, und auch für sie gilt, dass geteiltes Leid halbes Leid bedeutet.

Schmerztherapie in der Palliativmedizin und Symptomkontrolle

Dr. Albert Hein


Im Rahmen der Palliativmedizin stellt die Schmerztherapie besonders für den Allgemeinarzt den professionellen Zugang zum Patienten dar. Hier ist die erste Aufgabe des Arztes, neben anderen Zielen der Palliativmedizin, die Linderung der Schmerzen des Schwerstkranken, damit er noch in die Lage versetzt wird, "letzte Dinge" zu erledigen. Besonders wichtig ist es darauf hinzuweisen, dass neben den körperlichen Schmerzen auch die Mehrdimensionalität des Schmerzgeschehens zu berücksichtigen ist. Dies kann nur durch eine sehr hohe kommunikative Kompetenz des Arztes gelingen, der hermeneutische Prinzipien der Diagnostik und Therapie beherrscht, sodass er den Patienten in seiner bio-psycho-sozialen Gesamtheit wahrnimmt.

Insgesamt steht die Handlungsweise des Allgemeinarztes gerade in der Palliativmedizin unter den vier ethischen Prinzipien der Non-Malevolenz, der Benevolenz, der Achtung der Wahrheit und des Wahrens der Autonomie des Patienten! Neben einer ausreichenden Schmerzmedikation nach den Kriterien der WHO müssen vor allen Dingen die Symptome Angst und Depression behandelt werden. Weiterhin ist auch im Bereich der Schmerztherapie auf eine ausreichende Symptomkontrolle zu achten.

Es muss besonders darauf hingewiesen werden, dass die Palliativmedizin und -therapie nicht durch die anästhesiologische Intensivmedizin repräsentiert wird und werden kann. Nur wenn Ärzte wieder lernen, Schmerzen auch als Signal und Zuwendungsappell zu begreifen, behandeln wir den Schmerz, ohne die Begleitung des Patienten im ganzheitlichen Sinne zu vergessen.

Zu betonen ist, dass gerade der Allgemeinarzt hier auf Grund seiner Ausbildung den ganzheitlichen Ansatz beherrscht und auch im Rahmen der häuslichen Betreuung der Patienten bis zuletzt begleiten kann. In einem fortlaufenden Selbsterfahrungsprozess ist es auch nötig, die eigenen Ängste vor dem Sterben zu reflektieren, um so wirklich hilfreich und einfühlsam im Gestaltungsprozess der Endphase eines Lebens zu wirken. Dieses kann nur in einer ganzheitlichen Schmerztherapie ausdrücklich hervorgehoben und bearbeitet werden.

Besonderheit der Palliation alter Menschen und ethisch-palliative Fragestellung

Dr. Johannes Horlemann


1. Der sterbende alte Mensch

Die hausärztliche Versorgung stellt das dichteste und stabilste Unterstützungsnetz für die alte Bevölkerungsgruppe mit ihren gesundheitlichen vielfältigen Problemen dar. Mehr als 80 % der über 65-jährigen Menschen stehen in der Betreuung von Allgemeinärzten.

Diese werden häufig mit fortgeschrittenem geistig-körperlichen Verfall konfrontiert, die Anlass zu Fragestellungen aus dem ethisch-palliativmedizinischen Bereich geben: Wie viele Maßnahmen sind sinnvoll, wie viele geboten, was ist unter den Aspekten des Würdebegriffs und des mutmaßlichen Willens eines Schwerstkranken noch unter einer "Vita minima" geboten, erlaubt, sinnvoll, machbar. Ziel einer palliativmedizinischen Betreuung des alten Menschen ist eine erlebbare Lebensqualität. Diesem Ziel dienen alle Maßnahmen zur Wiederherstellung des Wohlbefindens, hinter denen kurative Aspekte nachrangig werden. Die bewusste, durch die Gemeinschaft eines palliativen Teams getragene Entscheidung des Behandlungsverzichtes ist nicht gleichzusetzen mit einer Maßnahme der aktiven Sterbehilfe.


Alterstypische Veränderungen beeinflussen die Schmerztherapie:
    * Nierenfunktion
    * Veränderung des Gastrointestinaltraktes und der Verteilung von
       Flüssigkeiten im Körper
    * Sensitivität des zentralen Nervensystems gegenüber Substanzen,
       insbesondere Opioiden
    * Verschlechterung der Blutversorgung von Zielorganen,
       von Medikamenten
    * Altersbedingte Eiweißverarmung
    * Veränderungen der Verteilungsvolumina


Es gelten deshalb folgende Regeln zur Medikation bei sterbenden alten Menschen:
    1. Allgemeine Zurückhaltung ist empfehlenswert, jedoch sollte
        nicht am Notwendigen gespart werden.
    2. Medikamente mit langer Halbwertszeit sind zu vermeiden.
    3. Altersdosierungen sind zu wählen: Die Dosis sollte zu Beginn bei 50 % der
        Erhaltungsdosis liegen.
    4. Es besteht erhöhte Empfindlichkeit des Zentralnervensystems gegenüber
        Tranquilizern und Analgetika.
    5. Stets ist eine individuelle Einstellung nötig.
    6. Wichtig ist die Aufklärung der Angehörigen und Pflegenden über mögliche
        Nebenwirkungen sowie Maßnahmen zur Sicherung der Compliance.
    7. Die Folgen der Multimedikation müssen bedacht werden, bei hoher
        Medikamentenanzahl sind antagonistische Wirkungen die Regel.
    8. In der Symptomenkontrolle spielt die Abgrenzung von Medikamenten-
        nebenwirkungen gegen Alterserkrankungen eine besondere Rolle.

Der alte Mensch benötigt in umfassenderem Sinne eine umfelddiagnostische und therapeutische Betrachtungsweise, die aufgrund seiner Arbeitsweise dem allgemeinmedizinisch arbeitenden Kollegen am besten gelingt. Zur Schmerztherapie gehört insbesondere das psychosoziale Engagement mit Einbindung der Angehörigen, um realistische, wenn auch manchmal kurzstreckige Therapieziele zu definieren, auch wenn diese Therapieziele palliativ-therapeutisch gemeint sind.

Jede Therapie orientiert sich an den Zielen: Alltagskompetenz und Aktivierung statt Heilung aller Symptome.

Im Gegensatz zu immer noch bestehenden Mythen ist die Schmerzwahrnehmung im Alter vollkommen erhalten; im Gegenteil wird sie noch verstärkt durch die Folgen von Vereinsamung, den Verlust sozialer Kompetenz und die Immobilität.
Eine besondere differentialdiagnostische Herausforderung stellt die Abgrenzung zwischen demenziellen, deliranten und depressiven Syndromen dar. Diese werden in der folgenden Tabellenübersicht vergleichend dargestellt.


2. Ethisch-palliativmedizinische hausärztliche Kompetenz

Nicht nur im Bereich der Palliativmedizin gilt der ethische sowie juristische Anspruch des Patienten auf adäquate Schmerztherapie, ableitbar aus dem Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Jede Palliativtherapie orientiert sich am Selbstbestimmungsrecht des Patienten, der der Wahrung der Patientenwürde bei jeder ärztlichen Maßnahme dient. Es ist zu unterscheiden:

        * der willensfähige Patient
        * der kommunikationsgestörte Patient
  
Ist der Patient "geschäftsfähig", d. h. willensfähig und aufgeklärt, ist er in der Lage, verbindlich seinem Willen Ausdruck gegenüber allen medizinischen Maßnahmen zu verleihen. Diesen Willen kann er auch in einer Patientenverfügung niederlegen, die als Mittel und Ausdruck eines fortlaufenden Prozesses in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod verstanden wird. Patientenverfügungen werden oft kombiniert mit Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen.


Die Vorsorgeformen werden in der folgenden Tabelle dargestellt:


Anmerkung: sinnvolle Kombinationen wären 1 + 3 oder 1 + 2

Besondere Bedeutung im palliativmedizinisch-ethischen Kontext kommt den Fragen der Therapiebegrenzung zu. In der Praxis stellt sich die Frage, wem welche Maßnahmen im Einzelfall nützen. Palliativmedizin versteht sich geradezu als Vorbeugung gegenüber Bestrebungen aktiver Sterbehilfe. Hausärztliche Medizin ist bemüht, der Verpflichtung zum Schutz des Lebens und Wohlbefindens des Patienten in stets individuellen Antworten nachzugehen. Eine rein verbale Ablehnung der aktiven Sterbehilfe ohne Bereitstellung der Ressourcen für eine gute Palliativmedizin wird als heuchlerisch betrachtet.

Euthanasie und Hilfe zur Selbsttötung lehnte der Ärztetag im Mai 2003 erneut und nachdrücklich als unethisch und unärztlich ab.


Für Sie entdeckt und zusammengestellt durch EPS-Schäffler / K. W.Vick

Textzusammenstellung: © Ermasch - Presse - Service, Schäffler / K.W Vick
Fotos: © EPS-Schäffler / Deutscher Hausärzteverband e.V.
Quelle: Deutscher Hausärzteverband e.V.

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Layout und Gestaltung: Andreas Schefisch 20.07.2004