Das
gläserne Schloß
Am Ufer
eines großen Sees stand eine saubere Hütte, die
hatte Tino, der junge Fischer, von seinen Eltern geerbt. Die waren auch
Fischersleute gewesen. Tino war ein hübscher, schlanker
Bursche und brav war er auch. Aber der frühe Tod seiner Eltern
hatte ihn ernst und still gemacht. Er ging nur seiner Arbeit nach, fuhr
bei Tag und oft auch bei Nacht auf den See hinaus und warf seine Netze
aus. Fiel der Fang reichlich aus, dann ging er zu dem nächsten
Marktflecken und verkaufte die Fische an einen Händler. Wenn
er dann in die Hütte heimkehrte, vermißte er seine
Mutter sehr. Sie hatte immer so treu für ihn und den Vater
gesorgt und in der Hütte war alles blitzblank gewesen. Da
dachte er manchmal, es wäre gut, wenn er sich eine Frau nehmen
würde. Aber wenn er sich dann die Mädchen aus dem
nahen Dorf ansah, wollte ihm keine gefallen und so blieb er allein. War
er auf dem See draußen, dann mußte er an seinen
Vater denken. Dem hatte er schon als Knabe beim Fischfang geholfen, und
wenn sie dann mit dem Boot still lagen, dann erzählte der
Vater immer so wunderschöne Geschichten. Am liebsten
hörte er die von dem gläsernen Schloß. Das
stand unten auf dem Grund des Sees, und drinnen wohnte die
Seekönigin mit ihren drei schönen Töchtern.
Man konnte ihren Gesang manchmal aus der Tiefe hören, und bei
klarem Wasser konnte man auch das Schloß unten blinken und
blitzen sehen.
An einem
schönen Sommertag, als Tino mit dem Boot draußen auf
dem See war, mußte er an die Erzählung des Vaters
denken. Der Himmel war klar und blau und der See glatt wie ein Spiegel.
Tino meinte, eine leisen Gesang aus dem Wasser zu hören. Er
beugte sich über das Boot, um besser lauschen zu
können. Doch er hatte sich wohl zu tief hinausgebeugt und
stürzte auf einmal kopfüber in den See. Er sank immer
tiefer und tiefer und fühlte auf einmal festen Boden unter den
Füßen. Aber in seinem Kopf war ein Sausen und
Brausen, er konnte weder sehen noch hören. Als seine Sinne
wieder klar waren, schaute er um sich. Er befand sich in einem
großen Garten. Darin standen viele Bäume und
Sträucher. Inmitten des Gartens erhob sich ein
Schloß. Da waren nicht nur die Fenster, sondern auch die
Türen und Wände aus Glas. Tino mußte sich
erst noch einmal die Augen reiben, aber es stand wirklich und
wahrhaftig da, und es war gar prächtig anzuschauen mit seinen
Türmchen und Zinnen. Tino sah nun auch, daß die
Bäume und Sträucher mit ihren herrlichen
Blüten und Früchten aus Glas waren. Sie standen auf
grünem Moosboden und die Wege waren mit feinem
weißen Sand bedeckt. Er lag so eine ganze Weile und
hörte auf einmal fröhliche Stimmen. Drei
schön gekleidete Mädchen sprangen in dem Garten herum
und spielten mit goldenen Bällen. Der einem entglitt der Ball
und rollte auf den Strauch zu, unter welchem Tino lag. Das
Mädchen eilte ihm nach, blieb aber erstaunt stehen, als sie
Tino erblickte. Sie rief die beiden anderen Mädchen herbei und
nun begann ein fröhliches Fragen. Wer er sei und wie er hier
herunter gekommen wäre. Tino sagte, er sei ein Fischer und aus
seinem Boot in den See heruntergestürzt. Da klatschen die
Mädchen in die Hände und sagten: "Oh, das ist
schön, da mußt du nun immer bei uns bleiben und
unser Gespiele werden." Tino sah sich die Mädchen an. Sie
waren sehr schön, hatten lange gelbe Haare und
grünschimmernde Augen. "Wir sind die Töchter der
Seekönigin" sagte die eine. "Ich heiße Schwanhild,
und das sind meine Schwestern Lilia und Iris. Komm, wir wollen dich zu
unserer Mutter führen." Die Mädchen sprangen lachend
voran und Tino folgte ihnen zögernd nach. Die
Seekönigin saß auf einem prächtigen Thron
von Gold und Perlmutter, umgeben von ihren Frauen. In der Mitte des
Raumes stand ein großer Tisch und Tino sah zu seinem
Erstaunen, wie Wichtelmännchen goldene Teller und Becher
darauf stellten und Kannen mit rotem und weißen Wein
herbeischleppten. Die Seekönigin war sehr freundlich zu Tino
und er durfte am Mahl teilnehmen. Als alle am Tisch saßen,
öffnete sich die Tür noch einmal.
Ein
Mädchen trat herein. Sie hatte in weißes Gewand an
mit einem goldenen Gürtel darum. Zwei lange blonde Flechten
hingen ihr über die Schulter herunter und ihre Augen waren
hell und klar wie der See an einem schönen Sommertag. Sie
hielt in hocherhobenen Händen eine goldene Schüssel
und stellte sie vor der Königin nieder. "Das ist Magelone, die
Gespielin meiner Töchter" sagte die Königin. "Sie ist
auf dieselbe Weise zu uns heruntergekommen wie du." Tino sah zu
Magelone hin und er dachte bei sich, sie ist schöner als alle
drei Prinzessinnen zusammen, denn sie ist stolz wie ein Schwan, rein
und weiß wie eine Lilie und ihr Gesicht ist hold wie eine
Irisblüte. Das Mahl verlief sehr fröhlich, denn die
Männlein fiedelten und flöteten eine lustige Musik
dazu. Aber Tino war froh, als es zu Ende war. Ihm war sehr unbehaglich
zumute, denn es war hier unten schwül und warm, und als ihn
dann die Wichtelmännchen in ein prächtiges
Schlafgemach führten, da war es, als wollten die
gläsernen Wände über ihm
zusammenstürzen. Er lief noch einmal hinaus in den Garten.
Aber da war es genau so schwül und die gläsernen
Bäume standen glitzernd und unbeweglich da. In der Ferne
hörte Tino einen leisen Gesang und er sah Magelone unter einem
Baum sitzen. Sie hatte die Hände um die Knie geschlungen und
sang leise vor sich hin. Tino ging näher und er
hörte, wie sie sang:
"O Himmel und Sonne, o Wolken
und Wind
es sehnt sich nach euch, der Erde Kind.
Doch für mich hin kann ich's nur sagen,
darf niemandem mein Herzeleid klagen."
Als Tino
diese Worte hörte, tat ihm das Herz weh, denn Magelone sang
sie nach einer süßen, aber unendlich traurigen
Weise. Er trat leise an sie heran und sagte: "Aber mir kannst du alles
sagen, denn auch ich will nicht hier unten bleiben. Komm, laß
uns den Weg zur Erde suchen." Magelone schüttelte ihren Kopf
und sagte: "Wie sollen wir durch das tiefe Wasser wieder zur Erde
kommen?" Dann erzählte sie ihm, daß sie auch
niemanden mehr oben auf der Welt habe. Vater und Mutter wären
gestorben und sie sei einmal bei stürmischem Wetter auf dem
See gewesen und aus dem Boot gestürzt. Sie saßen
noch lange beisammen und erzählten sich. Als sie sich
trennten, sagte Tino: "Wir wollen treu zusammenhalten, wir zwei aus dem
Menschenland."
Tino
mußte nun, genauso wie Magelone, immer für die
Prinzessinnen da sein. Sie schenkten ihm schöne Kleider und er
mußte mit ihnen spielen und tanzen. Wäre Magelone
nicht gewesen, er hätte dieses Leben nie ertragen. Er sehnte
sich nach seiner Arbeit, nach dem frischen Wind, der über dem
See wehte, und die köstliche Speise, die Magelone
täglich in der goldenen Schüssel zum Mahl hereintrug,
hätte er gerne mit seiner einfachen Erdenkost vertauscht. Es
gab hier unten weder Zeit noch Stunde, aber immer wenn Tino
wähnte ein Tag wäre herum, brach er ein
gläsernes Blatt von einem Baum und versteckte es. Als er
hundert zählte, zog er seine alten Fischerkleider wieder an
und ging zu Magelone. Er sprach zu ihr: "Drei Monde bin ich nun schon
hier unten und ich ertrage dieses Leben nicht länger. Wir
wollen zur Königin und zu den Prinzessinnen gehen und sie um
unsere Freiheit anflehen." Als die Prinzessinnen die Bitten der Beiden
hörten, erhoben sie ein großen Klagen. "Wer
schmückt mich zum Tanz", sagte Schwanhild, "Wer
strählt mir mein Haar", klagte Lilian und "Wer singt mich in
den Schlaf" weinte Iris. Doch die Beiden ließen nicht nach
mit ihren Bitten und warfen sich der Königin zu
Füßen. Da wurde diese unwillig und sprach." So
ziehet denn hin, ihr törichten Menschenkinder. Hier unten
wäre euch Frohsinn und ewige Jugend zuteil geworden. Ihr aber
zieht es vor, euch auf der Erde zu mühen und zu plagen und
dann zu sterben. Aber meine Töchter sollen wieder eine
Gespielin aus dem Menschenland haben und darum mußt du,
Magelone, uns dein erstes Kindlein versprechen. Wir wollen es holen,
wenn es deiner nicht mehr bedarf." Magelone versprach es und dachte bei
sich, vielleicht werde ich niemals ein Kindlein haben. Der Wassermann
wurde geholt. Er wohnte in einem tiefen Brunnen unten im See und durch
den Brunnen liefen alle Quellen, die dem See sein Wasser geben. Der
Wassermann war uralt. Er hatte Schwimmhäute an Händen
und Füßen und sein Gesicht war grau und rissig wie
das Gestein am Brunnen. "Trage die Beiden zur Erde hinauf" befahl ihm
die Königin. Da nahm der Wassermann Tino und Magelone auf
seine starken Arme und schlug seinen schützenden Mantel um
sie. Dann trug er sie ruhig und sicher durch das tiefe Wasser hinauf
zur Erde, und setzte sie unweit von Tinos Hütte am Ufer
nieder. Als die Beiden die Erde unter ihren Füßen
fühlten und den Himmel über sich sahen, weinten sie
vor Freude. In Tinos Hütte fanden sie alles unversehrt und
auch sein Boot war am Ufer angepflockt. Magelone blieb nun immer bei
Tino, und sie wurde seine Frau. Zwar mußten sie sich erst
wieder an harte Arbeit gewöhnen. Oft verbrannte Magelone sich
die Hände am Herdfeuer, oder sie zerstach sich die feinen
Fingerlein beim Netzeflicken. Aber sie war unverdrossen und es
währte nicht lange, da glänzte und blinkte es in der
Hütte genauso wie zu Lebzeiten der Mutter. Tino und Magelone
waren sehr glücklich und sie empfanden ihr Glück viel
mehr, als andere Menschen, denn für sie war jeder Tag ein
Geschenk.
Als ein
Jahr herum war, hielt Magelone ein Kind im Arm. Es war ein
Mägdelein und sie nannten es Iris. Es wuchs heran und wurde
der Mutter holdes Ebenbild. Aber Magelones ruhiges Glück hatte
nun ein Ende. Sie dachte an ihr gegebenes Wort und sorgte sich und
bangte um das Kindlein. Tino sah ihre Angst und tröstend sagte
er: "Vielleicht hat es die Seekönigin vergessen, daß
du ihr dein Kindlein versprechen mußtest, denn es ist ja nun
schon drei Jahre alt." Aber die Seekönigin hatte es nicht
vergessen. Eines Nachts, als Tino weit draußen auf dem See
beim Fischfang war, hörte Magelone vom Ufer her ihren Namen
rufen. Da erschrak sie und drückte ihr Kindlein fester an
sich. Doch der Ruf wurde immer lauter und in der Luft war ein Brausen
wie von einem starken Wind. Da stand Magelone auf und trat an das
kleine Fenster. Sie sah, wie der See wild und ungebärdig wurde
und wie große Wellen vom Ufer her auf die Hütte
zustürzten. Leise sprach sie für sich hin: "Dein Haus
und deinen Herd sollst du nach deiner Rückkehr wenigstens noch
vorfinden, du, mein liebster Mann."
Sie
öffnete die Tür und rief: "Ich komme." Da wurde es
stille in der Luft und die Wellen rollten zum See zurück.
Magelone aber ging zum Ufer und sprang mit dem Kind hinab in den See.
Doch der Wassermann, der das Kind holten sollte, fing sie mit seinen
starken Armen auf und brachte sie unversehrt hinab ins
gläserne Schloß. Da war die Freude groß.
Die Prinzessinnen umringten Magelone und sagten: "O, das ist
schön, daß du uns dein Kindlein selbst bringst.
Raste eine Weile bei uns, ehe du zur Erde zurückkehrst." Da
wurden Magelones Augen dunkel wie der See bei Nacht und mit leiser
Stimme sagte sie: "Ich werde nicht wieder zur Erde
zurückkehren, denn von dem Kindlein kann ich mich nicht
trennen." Da verstummte alles Lachen im gläsernen
Schloß und die Königin verspürte eine
Regung im Herzen, die sie nie zuvor gekannt hatte. "Ihr
müßt auf das Kindlein verzichten", sprach sie zu
ihren Töchter. "Wenn Menschenmütter so lieben
können, dann müßt ihr ein Opfer bringen.
Magelone mag bei uns bleiben, solange sie mag und dann mit dem Kindlein
zur Erde zurückkehren." Da wurden Magelones Augen wieder hell
und dankerfüllt beugte sie ihr Knie vor der Königin
und sagte: "Laßt mich ohne Rast zurückkehren, damit
mein liebster Mann sich nicht zu lange um mich härme." Da trug
sie der Wassermann wieder ruhig und sicher hinauf zur Erde.
Tino war
im Morgengrauen zurückgekehrt. Als er die Beiden in der
Hütte nicht fand, war sein Schmerz groß. Er suchte
sie auch nicht, denn er ahnte, was sich hier begeben hatte. Still und
traurig saß er auf seinem Lager. Er hörte die leisen
Schritte nicht, die sich der Hütte näherten. Erst,
als sich die Tür öffnete und Magelone mit dem Kind
eintrat, sah er auf. Sie legte ihm das Kind in den Arm und sagte: "Nun
bleiben wir immer bei dir." Da wurden die Beiden wieder
glücklich wie zuvor und arbeiteten gemeinsam um ihr
tägliches Brot. Waren ihre Tage auch voller Mühe und
Plage, so hätten sie doch nicht einen eingetauscht gegen
hundert Tage voller Frohsinn unten auf dem Grunde des Sees, im
gläsernen Schloß.
Das
schöne Müllerskind
Vor
vielen, vielen Jahren stand in einem Waldtal eine alte Mühle.
Die Müllersleute, die darin wohnten, waren nicht reich an Hab
und Gut, aber sie hatten eine wunderschöne Tochter, die Marlis
hieß. Sie war rank und schlank wie eine junge Birke. Die
golden schimmernden Flechten hatte sie wie ein Krönlein
über dem Kopfe festgesteckt, und ihre Augen waren licht und
blau wie Vergißmeinnicht, die den Waldbach
umsäumten. Aber noch größer als ihr
Liebreiz war ihre Herzensgüte. "Sie ist wie ein Sonnenstrahl",
sagten die Leute, die sie kannten. Das sagte auch die alte
Großmutter, die krank und gebrechlich in der Mühle
am Herdfeuer saß und von Marlis gepflegt wurde. Das sagte die
Mutter, wenn ihr Marlis fröhlich beim schweren Tagewerk half,
und die sorgenvolle Miene des Müllers hellte sich auf, wenn er
in das sonnige Gesicht seines Töchterleins schaute. Der
Müller hatte nämlich viele Sorgen. Die Mühle
war alt und baufällig und brachte nicht viel ein. Da mangelte
es oft am täglichen Brot, aber Marlis wußte immer
Rat. Sie lief in den Wald hinein, holte Beeren, Pilze, würzige
Kräuter, und im Herbst schleppte sie unermüdlich Holz
und Tannenzapfen heim. Der Wald war ihr liebster Aufenthalt. Wenn sie
so hindurchlief und die Waldvöglein singen hörte,
dann hätte sie mit keiner Königin tauschen
mögen.
Eines
Tages sagte der Müller: "Wenn nicht ein Wunder geschieht,
müssen wir aus der Mühle heraus und betteln gehen."
Als das Marlis hörte, tat ihr das Herz weh, und weil sie
alles, was ihr Herz bewegte, dem Wald anvertraute, lief sie noch einmal
hinaus. Sie legte sich unter einen Baum und dachte über die
Worte des Vaters nach. Die Mühle verlassen zu müssen
dünkte ihr schlimmer als der Tod, denn nirgends auf der Welt
gab es wohl noch einmal ein so schönes Plätzchen wie
das stille Waldtal mit der alten Mühle. Sie überlegte
hin und her, aber diesmal wußte sie keinen Rat. Da verbarg
sie ihren Kopf in dem grünen Waldmoos und weinte bitterlich.
"Weshalb weinst
du denn so, schönes Müllerskind ?" hörte sie
auf einmal eine Stimme fragen. Marlis hob ihren Kopf. Vor ihr stand ein
Zwerg und schaute sie traurig an. Sie erschrak. Die
Großmutter hatte ihr wohl erzählt, daß in
den Höhlen der Berge solche kleinen Männlein hausten,
aber sie hatte noch niemals einen gesehen. Weil das Männlein
aber ein gutes Gesicht hatte, faßte sie Vertrauen, richtete
sich auf und erzählte alles, was ihr Herz bedrückte.
Als sie geendet hatte, sagte das Männlein: "Vielleicht kann
ich dir helfen, schönes Müllerskind. Ich habe in
meiner Höhle ein Stücklein Gold versteckt. Das werde
ich unter diese Baumwurzel legen, und morgen um dieselbe Zeit kannst du
es dir holen. Du mußt mir aber versprechen, niemandem etwas
davon zu sagen, denn wenn es Golo, der Herrscher, erfährt,
würde er mich töten." Marlis versprach dem
Männlein zu schweigen, und dieses erzählte ihm nun,
daß Golo ein mächtiger, böser Zwerg sei. Er
sei von einer unersättlichen Goldgier besessen, und das arme
Zwergenvolk müsse Tag und Nacht für ihn arbeiten.
Nach diesen Worten verschwand das Männlein wieder im Walde und
Marlis trat wohlgemut den Heimweg an. Unterwegs traf sie Konrad, den
jungen Jäger, und sie liefen ein Stücklein
miteinander. Die beiden hatten sich gern und Konrad wußte,
daß er niemals ein andere Braut heimführen
würde als Marlis.
Am
nächsten Tage lief Marlis wieder an die verabredete Stelle,
und als sie sich bückte, glänzte ihr das
Stücklein Gold unter der Baumwurzel entgegen. Freudig wollte
sie es gerade in ihrem Mieder verstecken, als eine heisere Stimme
fragte: "Was hast du denn da gefunden, schönes
Müllerskind ?" Marlis drehte sich herum. Vor ihr stand ein
häßlicher Zwerg. Er war größer
als das Männlein von tagszuvor. Marlis erschrak. Sie dachte an
die Worte des Männleins und sagte zögernd. "Das hab
ich hier gefunden." "Was willst du denn mit dem Golde?", forschte der
Zwerg weiter. "Ich will es meinem Vater geben, der ist in
großer Not und kann es gut gebrauchen", antwortete Marlis.
"Ha", lachte der Zwerg, "mit diesem Stücklein Gold kann er
nicht viel anfangen. Komm mit mir, ich will dir einen ganzen Beutel
voller Goldstücke geben." Marlis wollte davonlaufen, aber der
Zwerg vertrat ihr den Weg und redete mit schmeichlerischen Worten auf
sie ein. Da dachte Marlis an die Sorgen der Eltern und ging mit dem
Zwerg bis zu dem Ende des Waldes, wo ein hoher Berg das Tal begrenzte.
Hinter Tannengestrüpp war eine große Felsenspalte.
In diese zog der Zwerg Marlis an der Hand hinein, und sie
mußte ihm durch Höhlen und finstere Gänge
folgen. Da standen überall Bergmännlein mit
Grubenlichtchen und hämmerten und klopften an dem Gestein
herum. Sie drückten sich scheu beiseite, als Marlis mit dem
Zwerg vorbeiging. Der aber trieb sie mit harten Worten zur Arbeit an.
Weh mir, dachte Marlis, nun bin ich Golo, dem Herrscher, in den Berg
hinein gefolgt. In einer Höhle blieb er stehen und beim Schein
einer Pechfackel sah Marlis, daß hier ein großer
Haufen Goldes lag. Der Zwerg sagte: "Einen Beutel voll diesen Goldes
werde ich noch heute deinem Vater vor die Türe legen, aber du
mußt bei mir bleiben und meine Gefährtin werden."
Über Marlis kam ein großer Schrecken und zitternd
sagte sie: "Behaltet euer Gold und laßt mich wieder aus dem
Berg hinaus." Da lachte der Zwerg und sagte, "Hinaus kannst du nicht
wieder, aber du sollst es gut haben und das ganze Zwergenvolk wird dir
untertan sein."
Die arme
Marlis wollte schreien, aber sie brachte keinen Laut heraus, die Kehle
war ihr wie zugeschnürt. Der Zwerg nahm sie bei der Hand und
sagte: "Nun will ich dir meine Felsenburg zeigen. Dort sollst du
zunächst allein wohnen, aber nach drei Tagen komme ich und
dann wollen wir Hochzeit halten. Da mußt du fein lustig sein,
schönes Müllerskind." Er zog sie aus der
Höhle hinaus und stieg mit ihr eine Felsentreppe hinauf und
auf einmal durchschritten sie eine Reihe der herrlichsten
Prunkgemächer. Da waren die Fenster von reinem Bergkristall
und an den Wänden glänzte goldener und silberner
Zierat. "Nun, wie gefällt es dir hier?" fragte der Zwerg, und
er schaute Marlis triumphierend an. Er meinte wohl, das arme
Müllerskind müßte beim Anblick dieser
Pracht anderen Sinnes werden. Marlis aber brachte kein Wort heraus. Da
schob der Zwerg einen Teppich von einer Tür, und der Blick in
ein blühendes Felsengärtlein wurde frei. Als das
Marlis sah, sprang sie schnell hinaus und lief an dem Rande des
Gärtleins entlang. Doch da fielen Felsenwände
überall schroff in die Tiefe hinunter und an ein Entfliehen
war nicht zu denken. Da ließ sich Marlis auf einem Steinsitz
nieder und weinte und weinte. Über ihr sang ein
Vöglein im Tannenbaum und als die Tränen so garnicht
versiegen wollten, sang das Vöglein: "Schönes
Müllerskind, wein´ dir doch nicht die
Äuglein blind." Aber Marlis hörte es nicht. Da
hüpfte das Vöglein auf einen der unteren Zweige und
sang es noch einmal. Jetzt horchte Marlis auf, und als sie das
Vöglein so nahe über sich erblickte, streckte sie ihm
beide Hände entgegen. "Liebes Vöglein," sagte sie,
"nur du kannst mein Bote sein. Fliege in die Waldmühle und
erzähle meinen Eltern wo ich bin." Da nickte das
Vöglein ein paarmal mit dem Köpfchen und flog davon.
Marlis fühlte sich nun etwas beruhigt, denn sie meinte, die
Eltern würden nach ihr suchen und die Großmutter
würde immerfort für sie beten. Scheu blickte sie nach
der Türe, durch welche sie in das Gärtlein gelangt
war. Sie bildete den Eingang zu einer Burg, die aus dem Felsen
herausgehauen war, aber nichts regte sich dort und auch im
Gärtlein war nichts mehr von dem häßlichen
Zwerg zu sehen.
Aus Busch
und Strauch aber huschten Elflein heraus, sie hatten den Arm voller
Blumen, Maßliebchen und Vergißmeinnicht, Aurickeln
und Anemonen. Sie breiteten die Blumen wie einen Teppich zu Marlis'
Füßen aus und ein Elflein sagte: "Golo, der
Herrscher, schickt uns. Wir sollen dir die Zeit vertreiben." Dann
tanzten sie singend über den Blumenteppich. So
leichtfüßig und hold, wie eben nur Elflein tanzen
können, und ihr Gesang klang lieblich wie junges
Vogelgezwitscher und Bienchengesumm.
Doch
Marlis konnte sich nicht daran erfreuen und ihre Augen füllten
sich immer wieder mit Tränen. Da hörten die Elflein
mit ihrem Tanz auf und ließen sich traurig zu Marlis'
Füßen nieder. Sie duckten ihre Köpfchen und
sahen nun selbst wie schlummernde Blümchen aus in ihren bunten
Kleidchen. Marlis wagte sich aber nicht von dem Steinsitz zu erheben.
Als es dunkelte, kam ein Zwerg mit einer Laterne. Marlis erkannte in
ihm das Männchen, mit welchem sie gestern im Walde gesprochen
hatte. Es sagte. "Golo, der Herrscher, schickt mich, ich soll dich in
dein Schlafgemach geleiten", und flüsternd setzte es hinzu:
"Verzage nicht, schönes Müllerskind, morgen werde ich
im Walde den Jäger aufsuchen und ihm erzählen, wo du
dich befindest." Marlis dankte dem Männlein und bat, er
möchte sie doch hier draußen lassen. In der
Felsenburg würde sie sich zu Tode fürchten. "Dann
werde ich hier bei dir wachen," sagte das Männlein. Eine
große Ruhe kam über Marlis. Inmitten der
schlummernden Elflein, bewacht von dem kleinen Zwerg, schloss sie ihre
müden, verweinten Augen und schlief ein.
Das
Waldvöglein war mit Marlis' Botschaft schnell zur
Waldmühle geflogen. Es war aber niemand daheim, denn die
Müllersleute suchten im Walde nach ihrem verschwundenen Kinde.
Nur die alte Großmutter saß in der Küche
und betete laut vor sich hin, so konnte sie nicht hören, was
das Vöglein sang. Da flog es auf einen Baum und wartete. Im
Morgengrauen kehrten die Müllersleute heim, sie hatten die
ganze Nacht mit Konrad vergeblich nach Marlis Ausschau gehalten. Nun
suchten sie müde und traurig ihre Kammer auf. Da flog das
Vöglein an das offene Kammerfenster und sang:
"Tief innen im Berg,
hütet ein mächtiger Zwerg
Marlis, euer Kind.
Das weint sich nun schier die Äuglein blind."
"Sing es noch einmal", bat die Müllerin.
Da sang es das Vöglein noch einmal und noch einmal.
Als der
Müller in der Frühe die Tür zur
Mühle öffnete, lag ein Beutel mit Gold auf der
Schwelle. Er zeigte ihn seiner Frau und sagte: "Wir werden von diesem
Golde nichts anrühren, bevor unsere Marlis nicht
zurückgekehrt ist." Gleich darauf kam Konrad, der
Jäger. Als er von der Botschaft des Vögleins
hörte, lief er noch einmal zurück bis zum Ende des
Waldtales. Aber beim Anblick des hohen Berges wurde er mutlos. Wo
mochte sich die arme Marlis befinden? Da hörte er seinen Namen
rufen und er sah einen Zwerg aus einer Felsenspalte hervorgucken, der
winkte ihm heftig zu. Konrad lief hin, und das Männlein sagte:
"Ich bringe dir Botschaft von Marlis, dem schönen
Müllerskind. Golo, der Herrscher, hat sie in den Berg gelockt,
er hält sie oben in seinem Felsengärtlein gefangen
und übermorgen will er Hochzeit mit ihr halten." Da fuhr
Konrad auf: "Führe mich schnell zu ihr" rief er und wollte in
die Felsenspalte eindringen. Doch das Männlein verwehrte ihm
den Eingang und warnte: "Du würdest nicht lebend wieder aus
diesem Berge herauskommen, denn Golo tötet jeden, der in
diesen Berg eindringt. Aber merke gut auf, ich will dir etwas anderes
verraten. Golo verwandelt sich oft in einen Raben und fliegt in den
Wald, um dort die Tiere zu belauschen. Wenn ihn dein Pfeil treffen
könnte, wären wir Zwerge alle erlöst und mit
uns das schöne Müllerskind". Das Männlein
verschwand nach diesen Worten im Inneren der Felsenspalte. Konrad aber
setzte sich auf einen Stein, spannte seinen Bogen fester und hielt
einen Pfeil bereit. Doch er mußte lange warten. Die Sonne
stand schon sehr hoch, da sah er endlich, wie ein Rabe mit heiserem
Gekrächze vom Berg aufflog. Er schoß seinen Pfeil
ab, und der Rabe stürzte getroffen zu Boden. Als aber Konrad
zu der Stelle hin eilte, sah er einen sterbenden Zwerg auf der Erde
liegen. Der Tod hatte Golo seine richtige Gestalt wieder gegeben. Im
gleichen Augenblick aber hörte man ein Krachen und Donnern im
Berg. Es klang, als wenn Gestein zusammenstürzte. Nach kurzer
Zeit kamen auch schon die Männlein von allen Seiten
angelaufen. "Die Felsenburg ist eingestürzt," schrien die
einen, "und hat die Goldhöhle unter sich begraben." "Nun wird
uns Golo noch mehr peinigen," riefen die anderen. Doch ihr Klagen
verwandelte sich in helle Freude, als sie Golo tot am Waldboden liegen
sahen. Da konnte sich Konrad nicht genug über die putzigen
Männlein wundern, die einander umarmten und
Purzelbäume schlugen und es nicht fassen konnten,
daß sie nun endlich frei waren. Konrad aber winkte das
Männlein heran, welches ihm die Botschaft von Marlis
überbracht hatte. "Führe mich nun schnell zu Marlis"
bat er. Da führte ihn das Männlein auf geheimen
Pfaden hinauf in das Felsengärtlein. Das war noch unversehrt
und Marlis saß ängstlich auf dem Steinsitz. Sie
hatte gehört, wie die Felsenburg zusammenstürzte. Als
sie nun Konrad erblickte, flog sie auf ihn zu und weinte in seinem Arm
alle ausgestandene Angst aus. Der Jäger legte seinen Arm um
ihre Schultern und unter Führung des Männleins
stiegen sie wieder in den Wald hinab.
Die Freude war groß,
als sie in der Mühle ankamen und die Müllersleute
dankten Konrad immer und immer wieder für die Errettung ihres
Kindes.
Von nun
an kamen gute Zeiten für die Mühle. Denn der
Müller ließ die Goldstücke aus dem Beutel
springen. Alles, was alt und baufällig war, wurde neu
hergerichtet und nach kurzer Zeit klapperte die Mühle wieder
lustig bei Tag und bei Nacht. Zwei stattliche Esel schleppten das
Mahlgut hin und her, und weil der Müller und die
Müllerin die Arbeit nicht mehr allein schaffen konnten, kamen
ein Knecht und eine Magd in das Haus. Da herrschte nun ein
fröhliches Leben auf dem einst so öden
Mühlenhof. Darüber hatten alle ihre Freude, auch die
alte Großmutter. Die saß nicht mehr am Herdfeuer,
sondern unten an der Mühle und neben ihr Marlis. Von den
Männlein hörte und sah man nichts mehr. Sie hatten
sich wohl auf die andere Seite des Berges zurückgezogen. Als
aber ein Jahr danach Marlis mit dem Jäger Hochzeit hielt, da
kamen sie an mit Pfeifen und Flöten und schleppten
selbstgefertigten Hausrat für Marlis mit. Es wurde nun eine
fröhliche Hochzeit auf der Wiese vor der Mühle
gefeiert. Der Müller knauserte nicht und ließ
hinausbringen, was in Küche und Keller vorrätig war.
Die Männlein zechten und lärmten und priesen Konrad
immer wieder als ihren Erretter. Die schöne Braut aber
mußte sich mit jedem einmal im Tänzlein drehen. Erst
als die Sonne hinter dem Berge verschwunden war, brachen die
Männlein auf. Sie zündeten ihre Laternchen an und
zogen mit vielen Dankesworten von dannen. Konrad und Marlis aber
schauten ihnen nach, bis das letzte Lichtlein im Walde verschwunden
war, und beide gedachten noch einmal der angstvollen Stunden, die
Marlis oben im Berg und im Felsengärtlein zugebracht hatte.
Das
Weihnachtselflein
Am
Ausgang des Dorfes, da wo der Weg zu dem dunklen Tannenwald
hinaufführt, lag abseits in der Wiese eine kleine
ärmliche Hütte. Wer da im Sommer tagsüber
vorbeiging, konnte da immer ein kleines flachshaariges Büblein
sehen. Das tummelte sich auf der Wiese, haschte nach den
Schmetterlingen oder lag im Grase und schaute hinauf in den Himmel. Und
weil es gar so oft und gar so lange in den Himmel schaute, strahlten
seine Augen die tiefe Himmelsbläue wieder. Das war das Peterle
und in der ärmlichen Hütte wohnte es mit seiner
Mutter, einer armen Witwe. Der Vater war schon frühzeitig
gestorben. Er hatte oben im dunklen Tannenwald beim Baumfällen
den Tod gefunden. Da war es für die Mutter gar nicht leicht,
für sich und das Büblein das tägliche Brot
zu verdienen, und sie mußte dafür die ganze Woche
bei den Bauern arbeiten. Wenn sie im Morgengrauen die Hütte
verließ, lag Peterle noch im tiefen Schlaf. Er rieb sich erst
die Äuglein, wenn die Morgensonne durch das kleine Fenster
guckte. Da sprang er schnell auf und lief hinaus zum Brunnen und
spritzte und planschte bei seiner Morgenwäsche. Dann erst aß er die
Hälfte von seinem Wassersüpplein, das ihm die Mutter
bereitgestellt hatte und brockte ein Stück trockenes Brot
hinaus. Gern hätte er die ganze Schüssel ausgegessen,
doch die andere Hälfte mußte er für das
Mittagsmahl aufheben. Bis dahin hatte er noch viel zu schaffen. Zuerst
wurde das Pfühl und die Decken auf der Holzbank
aufgeschüttelt. Das Büblein hatte kein weiches Bett
und die Mutter auch nicht. Dann wurde die Hütte blank gefegt
und Peterle ruhte nicht eher, als bis auch das letzte Eckchen sauber
war. Das hatte ihm die Mutter gelehrt. Zuletzt holte er Wasser vom
Brunnen und füllte die Töpfe und Krüge. Da
stand ihm wohl manchmal ein Schweißtröpflein auf der
Stirn, denn gar so leicht war das alles nicht für so ein
kleines Büblein. Aber dann konnte Peterle auf der Wiese
spielen. Doch immer war er allein, denn das Dorf war ein Stück
entfernt und viele Kinder gab es dort nicht. Da hatte Peterle
niemanden, mit dem er sprechen konnte. Nur die vielen Blumenkinder
standen da. Mit diesen redete er nun, sang ihnen vor oder
erzählte Geschichten, und wenn die Blumenkinder mit den
Köpflein nickten, dann war Peterle zufrieden. Ach, es war
überhaupt so wunderschön auf der Wiese. Was gab es da
nicht alles zu sehen. Da flatterten die Schmetterlinge, die
weißen und die bunten. Da summten die fleißigen
Bienchen herum und krochen in die Blütenkelche seiner
Blumenkinder. Wenn aber die dicken Hummeln kamen und gar so unsanft mit
den zarten Blumen umgingen, dann zankte sie Peterle aus. Viel Freude
hatte er auch an den putzigen Käfern, die zwischen den
Grashalmen herumkrochen, und wenn dann gar die grünen
Fröschlein angehüpft kamen, dann lachte er hell auf
vor Freude.
Auf der
Wiese konnte man aber auch viel hören. Da stieg die Lerche mit
ihrem Tirili, Tirili hinauf in die blaue Luft und die Schwalben zogen
zwitschernd an ihm vorüber. Wenn er mittags seine
Schüssel leergegessen hatte und still auf der Wiese lag, dann
musizierten die Grillen. Das klang so wunderschön,
daß ihm die Augen darüber zufielen.
So
verging dem Büblein die Zeit und wenn vom Dorf die
Vesperglocke läutete, dann sprang es auf und lief der Mutter
entgegen und half ihr, wenn sie das Feuer anbrannte, um die Abendsuppe
zu kochen. Es blieb aber immer bei einer Wassersuppe. Zu Lebzeiten des
Vaters hatte eine Ziege in dem kleinen Stall gestanden. Jetzt war er
leer. Darüber war die Mutter oft recht traurig, aber Peterle
tröstete sie und meinte, wenn er groß sei, wolle er
ihr eine Ziege kaufen und eine Kuh dazu. Da strich ihm die Mutter wohl
über das Flachsköpflein und meinte, bis dahin sei
noch eine lange Zeit.
Der
schönste Tag in der Woche aber war der Sonntag. Da konnte die
Mutter daheimbleiben und die Sonntagssuppe fiel auch ein wenig besser
aus. Wenn sie am Abend zuvor ihr Bündel auspackte, da war wohl
mal ein Stücklein Fleisch darin, das hatte eine gute
Bauersfrau hineingelegt. Sonntags hatte die Mutter auch Zeit, mit ihm
in den dunklen Tannenwald hinaufzugehen. Das Herz tat ihr dabei immer
ein wenig weh, denn sie dachte an Peterles Vater, den man tot aus dem
Walde herausgetragen hatte. Dem Büblein ließ sie das
aber nicht merken. Das war so fröhlich und sang mit den
Waldvöglein um die Wette. Für ihn war der Wald voller
Wunder. Er staunte über die hohen Bäume und freute
sich über den grünen Waldboden, auf dem so drollige
Pilzmännlein standen und die ganz kleinen Pilze waren wohl die
Kinder. Wenn sie ganz still waren, konnten sie auch die scheuen
Waldtiere sehen. Die Hirsche und Rehe und oben in den Baumwipfeln
kletterten die flinken Eichhörnchen herum. Manchmal gingen sie
auch am Sonntag zur Muhme. Die wohnte am anderen Ende des Dorfes. Sie
war ein altes Weiblein und Peterle meinte, sie müsse wohl
schon hundert Jahre alt sein, weil sie gar so viele Runzeln und Falten
im Gesicht hatte. Aber gut war die Muhme und immer hatte sie etwas
für das Büblein aufgehoben. Ein Schüsselchen
mit süßen Brei oder ein Stück Honigbrot. Im
Winter wohl gar ein Bratäpflein. Am allerschönsten
aber war es, wenn sich die Muhme in den alten Lehnstuhl setzte und
Märlein erzählte. Und sie wußte gar viele.
Von der schönen Prinzessin mit dem Krönlein im Haar,
die ein böser Zauberer verwünschte und die von einem
mutigen Königssohn erlöst wurde. Und wenn dann der
Königssohn dem Zauberer gar den Kopf mit dem Schwert abschlug,
dann sprang das Büblein auf und seine Augen blitzten. So
wäre es recht, rief er aus und genau so hätte er es
auch gemacht. Und die Muhme erzählte weiter. Von den
bösen Kobolden oben im Tannenwald. Vor denen müsse
man sich hüten, weil sie den Menschen oft einen Schabernack
zufügten. Von den guten Wichtelmännchen redete sie.
Die wohnten in einer Felsenhöhle und halfen den Armen, wenn
sie in Not waren. Die allerschönste Geschichte aber war die
vom Weihnachtselflein. Das fuhr in einem silbernen Schlitten durch den
Wald und beschenkte gute Kinder, aber nur solche. Und nur am
Weihnachtstag konnte man es treffen. Wenn Peterle nach einem solchen
Besuch bei der Muhme an der Hand der Mutter heimkehrte, dann stand sein
Plappermündlein nicht still und in der Nacht träumte
er von schönen Prinzessinnen und dem guten Weihnachtselflein.
Mit dem
Sommer war auch für Peterle die schönste Zeit vorbei
und wenn der Herbstwind die Blumenkinder auf der Wiese zerzauste und an
der Tür der alten Hütte rüttelte, dann
konnte Peterle nicht mehr auf der Wiese spielen. Die Mutter war nun
viel daheim, denn die Bauern hatten keine Arbeit mehr für sie.
Da wurde die Kost freilich noch schmaler in der kleinen Hütte
und die Mutter weinte manche heimliche Träne. Wenn das Wetter
nicht gar so stürmisch war, ging sie mit Peterle in den Wald
hinauf, um Holz und Tannenzapfen zu sammeln. Sehr fleißig
mußten sie dann sein, wenn sie im Winter nicht frieren
wollten. Der kam oft über Nacht. So auch in diesem Jahr und
als Peterle eines Tages erwachte, wirbelten die ersten Schneeflocken
vor dem Fenster herum. Dann wurde es sehr kalt und das kleine Fenster
bedeckte sich mit dicken Eisblumen. Da hauchte sich Peterle ein
Guckloch hinein und schaute hinaus. Doch von der Wiese war nichts mehr
zu sehen. Eine dicke weiße Schneedecke war darüber
ausgebreitet. Nun frieren die Blumenkinder nicht mehr und
können schön schlafen, dachte Peterle.
Eines Morgens sagte ihm die
Mutter, heute wäre Weihnachten.
Sie müsse aber ins Dorf und bei einem Bauern helfen.
Peterle solle nicht traurig sein, meinte sie,
ehe es dunkel wäre, sei sie wieder daheim.
So,
dachte Peterle, als er allein war, heute ist also Weihnachten. Da wird
mir die Mutter wieder ein Wachslichtchen schenken und ein
Stück Rosinenbrot und ich habe gar nichts, was ich ihr geben
kann. Bei diesem Gedanken wurde er ganz traurig. Aber dann fiel ihm
ein, was hatte doch die Muhme von dem Weihnachtselflein
erzählt ? Heute, am Weihnachtstag, könne man es
treffen, und gute Kinder würde es beschenken. O, Peterle
dachte doch, daß er ein gutes Kind sei. Wie oft hatte die
Mutter ihn so genannt. Hatte er nicht immer die Hütte
schön blank gefegt und Holz und Wasser hineingetragen ? Sicher
würde ihm das Weihnachtselflein etwas schenken für
die gute Mutter. So dachte das Büblein und schon war es
draußen, nahm den Schlitten und stieg zum Walde hinauf. Der
sah heute so weihnachtlich aus. Die schlanken Tannenbäume
hatten dicke weiße Mäntel an und Kapuzen auf. Den
grünen Waldboden deckte ein weicher weißer Teppich
zu. Peterle stapfte tapfer darauf los, aber die Beine wurden ihm bald
müde. Ob wohl das Weihnachtselflein hier vorbeikäme ?
- Peterle setzte sich auf den Schlitten und wartete. Da hörte
er ein Knacken und Rascheln im Wald und aus dem Dickicht traten Hirsche
und Rehe heraus. Waldhäslein hüpften herbei und
machten Männchen. Die Eichhörnchen kletterten von den
Bäumen herunter und die Waldvögel setzten sich auf
die untersten Äste. Es war, als ob die Tiere auf etwas
warteten. Vielleicht auch auf das Weihnachtselflein, dachte Peterle.
Schon hörte er in der Ferne in heimliches Klingen und ein
heller Schein drang durch den dunklen Tann. Klingling, klingling,
läutete es und heran kam ein silberner Schlitten. Zwei
weiße Hirsche waren davorgespannt und zwei
Wichtelmännchen hielten die Zügel. Im Schlitten aber
saß ein wunderholdes Elfenkind. Einen goldenen Stern hatte es
auf dem Kopf. Peterle meinte, er müsse schier vom Himmel
gefallen sein, weil er gar so schön glänzte und
weithin einen hellen Schein verbreitete. Das Elfenkind nickte den
Waldtieren freundlich zu und als der Schlitten an Peterle vorbeifuhr,
hielt er an. Peterle hatte gar keine Angst, weil das Elfenkind gar so
lieb ausschaute. Mit einem Stimmchen, das noch viel lieblicher klang
als die Silberglöckchen am Schlitten, redete es Peterle an:
"Wer bist du denn," fragte es, "und was willst du so allein im Wald?".
Da faßte sich Peterle ein Herz und sagte, er sei das Peterle
aus der Wiesenhütte. Er sei in den Wald gegangen, um das
Weihnachtselflein zu treffen und er wollte es dann recht schön
bitten, ihm etwas für die Mutter zu schenken. Die sei so arm
und müsse immer viel arbeiten und dabei hätten sie
oft nicht genug trockenes Brot zu essen. Da lachte das Elfenkind und
sagte: "Da hast du ja Glück gehabt, denn das Weihnachtselflein
bin ich." Dabei hob es die weiße Pelzdecke auf und Peterle
durfte mit in den Schlitten steigen. Nun begann eine fröhliche
Schlittenfahrt. Klingling, klingling, läuteten die
Silberglöckchen und immer tiefer ging es in den Wald hinein
und überall standen die Tiere und warteten und schauten mit
glänzenden Augen auf das holde Weichnachtselflein. Vor einem
Felsen machten sie Halt. Das Weihnachtselflein berührte den
rauhen Stein mit seinen zarten Händen. Da sprang er auf und
eine große Höhle tat sich auf. Die war voller
Wichtelmännchen. Das war ein Wispern und Flüstern.
Alle rannten geschäftig hin und her und schleppten
Säcke und Kisten und Kasten. Peterle sah voll Staunen auf die
herrlichen Dinge, die da hineingepackt waren. Spielzeug und Leckereien,
Röcklein und Wämslein. Das Weihnachtselflein aber
ging von einem zum andern und lobte die fleißigen
Wichtelmännchen. Zuletzt sagte es: "Nun sputet euch und bringt
diese Gaben in die Hütten der Armen." Einen
vollgefüllten Sack ließ es hinaus auf den Schlitten
bringen und die fröhliche Rückfahrt begann. Die
Wichtelmännchen stellten sich am Eingang der Höhle
auf und schwenkten ihre Zipfelmützchen. Mit dem hellen
Klingklang der Silberglöckchen ging es durch den Wald
zurück. Die Waldtiere standen noch immer da und Peterle sah,
daß ihre Augen noch mehr glänzten.
Als sie
an die Stelle zurückkamen, wo sein kleiner Schlitten stand,
nahmen ihn die Wichtelmännchen mit bis zum Ausgang des Waldes.
Dort stiegen sie alle aus. Der vollgefüllte Sack wurde auf
Peterles Schlitten gebunden und das Weihnachtselflein sagte: "Nun gehe
heim zu deiner Mutter und bleibe auch ferner so brav und gut." Peterle
bedankte sich schön, gab auch den Wichtelmännchen die
Hand und zog fröhlich mit seinem Schlitten zum Walde hinaus.
Gerade zu
derselben Zeit war auch die Mutter heimgekehrt. Als sie die
Hütte leer fand, meinte sie, das Büblein habe sich
versteckt. Sie brannte schnell Feuer an und steckte zwei Wachslichtlein
auf ein kleines Tannenbäumchen. Das hatte sie heimlich vom
Walde mitgebracht. Als sie dann aber das Büblein suchte, war
es nirgends zu finden, auch draußen nicht. Nur der kleine
Schlitten fehlte. Da stieg die Mutter in ihrer Angst zum Walde hinauf.
Als sie ein Stück gelaufen war, sah sie das Büblein
den Waldweg herunterkommen. Sie konnte es garnicht fassen, was er ihr
dann alles erzählte. Als sie aber dann daheim den Sack
öffnete, mußte sie es glauben, daß ihrem
Kinde ein holdes Wunder widerfahren war. Peterle stand mit strahlenden
Augen dabei. Was kam da nicht alles heraus! Äpfel und
Nüsse, Zuckerbrezeln und Rosinenbrot. Für die Mutter
ein warmer Rock und ein schönes buntes Tuch. Für
Peterle Höslein und buntgestickte Hosenträger. O,
solche hatte er sich längst gewünscht. Zuletzt war
noch ein kleiner Wagen und eine Peitsche darin. Im Wagen lag ein Beutel
mit zehn blanken Talern. Da weinte die Mutter vor Freude, Peterle aber
schrie laut und schwang die Peitsche, daß es nur so knallte.
So ein schönes Weihnachtsfest hatte er noch nicht erlebt.
Von nun
an ruhte Segen auf der kleinen Hütte, denn über den
Beutel mit den Talern hatte das Weihnachtselflein wohl einen
Zauberspruch getan. So oft auch die Mutter einen Taler herausnahm, es
blieben immer zehn. Die Mutter nützte aber die Güte
des Weihnachtselfleins nicht aus. Sie blieb weiter fleißig
und bescheiden. Nur auf die Arbeit ging sie nicht mehr, sondern
schaffte nur daheim. Bis zum Sommer wurde aus der baufälligen
Hütte ein kleines schmuckes Häuschen mit einem
Gartenzaun darum. Im Stall stand eine weiße Ziege und wenn
Peterle im Sommer auf die Wiese hinausging, spazierte ein kleines
Hühnervolk hinter ihm her.
Peterle ist noch oft oben im
Wald gewesen, aber die Höhle mit den Wichtelmännchen
und das Weihnachtselflein hat er nie wieder gesehen.
Die
Waldprinzessinnen
Es war
einmal ein König, der wohnte in einem großen, tiefen
Wald und alle Bäume und Tiere waren ihm untertan, denn er war
ein Waldkönig. Er hatte zwei liebliche Töchter,
Rotraut und Waltraut, die seine größte Freude waren,
denn sie brachten durch ihren Frohsinn den Sonnenschein in sein
düsteres Waldschloß. Seit dem Tode der
Königin liebte er sie noch inniger und er konnte ihnen keine
Bitte abschlagen. So hatte er nichts dagegen, wenn sie stundenlang im
Wald allein herumstreiften. Sehr zum Verdruß der Frau
Oberhofmeisterin, die dem kleinen Hofstaat des Königs
vorstand. Sie wollte die beiden gerne wie vornehme Prinzessinnen
erziehen und sie verübelte es dem König sehr,
daß er sie wie schlichte Waldmägdelein heranwachsen
ließ. Sie sah es viel lieber, wenn Rotraut und Waltraut am
Stickrahmen saßen oder sich im Saitenspiel übten.
"Ihr wollt doch auch einmal Königinnen werden" sagte sie, "und
da müßt ihr solche Künste verstehen." Aber
die Schwestern hatten keinen Gefallen daran und sie entwischten der
gestrengen Frau so oft sie nur konnten.
Viel
schöner fanden sie es im Walde. Da kannten sie jeden Weg und
jeden Steg. Die Tiere hatten keine Scheu vor ihnen, ließen
sich streicheln und nahmen das Futter aus ihrer Hand. Wenn sie so
daherkamen, da neigten die Waldbäume ihre Wipfel und einer
flüsterte dem anderen zu: "Die Waldprinzessinnen kommen, seht
nur, wie hold sie sind." Es gab aber auch nichts schöneres,
wie die beiden Schwestern. Immer hatten sie Kränze von
frischen Waldblumen in den braunen Locken und ihre Augen leuchteten
blau wie die Glockenblumen, die an sonnigen Stellen des Waldes
blühten. Singend und jubilierend liefen sie umher, und ihr
Zweigesang war so schön, daß alles ringsum lauschte.
Die Waldvögel stellten ihr Singen ein und sagten: "Sie
können es schöner als wir." Ja, selbst der Waldbach,
der es sonst immer so eilig hatte mit seinem Lauf, hielt eine Weile
inne und hörte zu. Dann hüpfte er fröhlich
über die moosigen Steine weiter. Immer hatten die Schwestern
kleine Erlebnisse im Walde. Wenn sie dann am Abend mit dem
König und dem Hofstaat vereint an der Tafel saßen,
dann erzählten sie so fröhlich davon, daß
alle lachten. Nur die Frau Oberhofmeisterin machte ein strenges Gesicht
und sagte, das schicke sich alles nicht für Prinzessinnen und
es könnte ihnen wohl mal ein Leid zustoßen. Aber der
Waldkönig beruhigte sie und meinte, in seinem Waldreich
würde niemand seinen Kindern etwas Böses antun. Nur
das Sumpfmoor könnte ihnen Gefahr bringen, aber das
wüßten sie ja.
Das
Sumpfmoor begann am Rande des Waldes. Es wurde von einer Zauberin
beherrscht, der Fee Liane. Sie war dem König sehr feindselig
gesonnen, denn sie wäre selbst gern Waldkönigin
geworden. Doch der König hatte sie verschmäht, weil
er wußte, daß sie ebenso schön wie grausam
und falsch war. Rotraut und Waltraut wußten, daß
sie das Sumpfmoor zu meiden hatten, doch vom Waldrand aus
spähten sie oft neugierig darüber hin. Es
dünkte ihnen so geheimnisvoll und es wuchsen so
wunderschöne Blumen dort. Die Fee Liane hatten sie auch schon
oft gesehen. Sie war schön wie eine Blume vom Sumpfmoor und
ihr Haar schimmerte so golden, wie der Reif, der es zusammen hielt.
Wenn die Fee merkte, daß die Schwestern in ihrer
Nähe waren, rief sie laut und lockend ihre Namen und winkte
ihnen freundlich zu. Aber Rotraut und Waltraut achteten nicht darauf
und zogen sich wieder tiefer in den Wald zurück.
Eines
Tages wurden sie in der Nähe des Sumpfmoores von einem
heftigen Unwetter überrascht. Als das Wetter vorüber
war, wollten sie zum Waldschloß zurückeilen. Der Weg
führte über den Waldbach. Er war stark angeschwollen
und das Wasser hatte den Steg hinweg gerissen. Da mußten sie
einen Umweg machen und, da es bereits dunkelte, verloren sie die
Richtung und irrten hin und her. Endlich sahen sie in der Ferne ein
Lichtlein schimmern. Als sie aber in seine Nähe kamen, merkten
sie, daß es nur ein Irrlicht war und daß sie sich
auf dem Sumpfmoor befanden. Da erschraken sie sehr und wagten keinen
Schritt mehr vor- und rückwärts zu tun. Eng
umschlungen bleiben sie stehen und wollten so den Morgen erwarten. Als
dann aber der Mond hinter einer Wolke hervorkam, wurde das Moor in ein
gespenstiges Licht getaucht, und Rotraut und Waltraut sahen mit
Entsetzen, wie die Fee Liane auf sie zuschritt. Sie wollten entfliehen,
aber schon stand sie vor ihnen. Ein seltsames Flimmern und Leuchten
umgab sie, denn der Schleier, der sie einhüllte, war mit
unzähligen Leuchtkäferchen besetzt. Sie sah
wunderschön aus, aber ein grausamer Zug entstellte ihr
Gesicht. "Habe ich euch endlich, ihr hochmütigen
Waldprinzessinnen" schrie sie die beiden an. "Bisher seid ihr dem Moor
ferngeblieben, nun sollt ihr für immer hier stehen." Sie nahm
ihren Zauberstab, berührte die beiden und verwandelte sie in
zwei Birkenbäumchen. "So," sagte sie, "nun habt ihr eure
menschliche Gestalt verloren und werdet sie nicht wiedererlangen. Es
sei denn," spottete sie weiter, "ihr könntet wieder zu eurem
Vater zurücklaufen." Mit einem Hohnlachen lief sie davon.
Bebend standen die beiden Birken
und zitterten an allen
grünen Blättchen und eine flüsterte der
anderen zu:
"Schwesterlein, hörst du mich?"
"Ja, Schwester ich höre dich!"
"Was wird der Vater sagen, wird um uns Kummer tragen."
"Weh, daß wir über Nacht, ihm dieses Leid gebracht."
Dann
wurde es ganz still und nur das leise Klagen des Nachtwindes ging
über das Moor. Der hatte alles gehört und gesehen und
er erzählte es dem Morgenwind. Als der dann in der
Frühe mit leichten Füßen über das
Moor ging, sah er die beiden schönen Birken stehen und strich
leise und zärtlich über sie hin. Zwei Waldtauben
kamen geflogen, setzten sich zu ihren Füßen und
sagten: "Gurr-gurr, wir haben alles gehört."
Der
Waldkönig war außer sich über das
Verschwinden seiner Töchter. Er durchstreifte mit seinen
Jägern Tag und Nacht den Wald, aber die Prinzessinnen waren
spurlos verschwunden. Da ging er an den Rand des Sumpfmoores und rief
laut ihre Namen. Aber niemand antwortete ihm und nur ein lautes
Hohngelächter der Fee Liane klang an sein Ohr. Da
wußte der König, daß sie seinen Kindern
ein Leid angetan hatte. Tief bekümmert ritt er heim, denn
über das Sumpfmoor hatte er keine Macht.
Inzwischen
waren die Waldtauben überall herum geflogen und hatten die
traurige Mär erzählt. Da versammelten sich die Tiere
des Waldes auf einer Wiese und hielten Rat. "Wir müssen den
Waldkönig wieder froh machen und seine Töchter
erlösen. Sie waren immer so gut." sagten die einen. "Aber wie
sollen wir das anfangen?" klagten die anderen. Da trippelten kleine
Waldmäuschen in den Kreis und sagten: "Wir wollen es tun! Wir
graben mit unseren Brüdern und Schwestern einen Gang bis zu
den Wurzeln der Birken. Dort wühlen und lockern wir die Erde,
auf daß sie ihre Wurzeln herausziehen können. Aber
die schnellsten Füße des Waldes
müßten sie dann zum König tragen." Zwei
edle Hirsche traten hervor und sagten: "Wir haben die schnellsten
Füße des Waldes, wir wollen sie zum König
tragen." "Gur-gurr" sagten die Waldtauben, "Hütet euch aber
vor dem alten Uhu, der auf der großen Eiche sitzt und bei
Nacht die Birken bewacht, und vor dem Raben, der ihn am Tage
ablöst." Noch in derselben Stunde begannen die
Mäuschen ihr Werk und als die ersten Sonnenstrahlen die Birken
auf dem Sumpfmoor wach küßten, hatten die treuen
Tiere den Gang bis zu den Wurzeln der Birken gegraben. Am Waldessaum
hielten sich die Hirsche bereit. Die Waldtauben kamen geflogen und
sagten: "Gurr-gurr, die Stunde eurer Erlösung ist da. Zieht
eure Wurzelfüßchen aus der Erde!" Da hoben die
Birken ihre Wurzeln aus der Erde heraus. Die Hirsche kamen gesprungen,
nahmen sie auf ihr Geweih und liefen mit ihnen davon.
Der alte
Uhu hatte mit glühenden Augen die ganze Nacht auf die Birken
geschaut. Was aber unter der Erde geschah, konnte er nicht sehen. Nun
war er müde und wartete auf den Raben, der ihn
ablösen sollte. Als der geflogen kam, sah er gerade, wie sich
die Birken aus der Erde hoben. Da kehrte er blitzschnell um, flog zur
Fee Liane und erzählte ihr alles. Die schwang sich auf einen
wilden Eber, der gerade über das Moor trabte und jagte mit ihm
zu den Birken hin. Die verschwanden aber in demselben Augenblick im
Walde. Da raste sie in ihrer blinden Wut hinterher. Doch die
Jäger des Königs, die in der Nähe pirschten,
sahen sie kommen, sie töteten den Eber mit ihren Pfeilen. Er
stürzte zur Erde, mit ihm die Fee und der Zauberstab entglitt
ihrer Hand. Die Jäger ergriffen ihn, denn ohne ihn war sie
machtlos. Sie bedrohte und verwünschte die Jäger,
aber es half ihr alles nichts. Sie wurde gefesselt und zum
König geführt.
Der hatte
eine kummervolle Nacht hinter sich und saß traurig unter den
Tannen vor seinem Waldschloß. Da stürzten die beiden
Hirsche heran. Sie hielten die Birkenbäumchen noch fest auf
ihrem Geweih, knieten vor dem König nieder und legten sie ihm
zu Füßen. Der König stand auf und
verwunderte sich sehr. Als er aber die Birken mit seiner Hand
berührte, standen seine Töchter frisch und lebensfroh
vor ihm. Sie lachten und weinten vor Glück, und in ihrer
übergroßen Freude faßten sie den
König bei der Hand und tanzten mit ihm im Kreis herum. Das
hörte man im Schloß und nach und nach kam alles
heraus, erst das Gesinde und dann der Hofstaat. Beim Anblick der
Prinzessinnen wurden alle rein närrisch vor Freude. Sie
faßten sich an den Händen und tanzten um den
König und die Prinzessinnen herum. Sogar die Frau
Oberhofmeisterin vergaß ihre Würde und tanzte mit.
Mitten in
diese Freude hinein kamen die Jäger mit der gefangenen
Zauberin. Aber wie sah die schöne Fee aus! Zerrissen das
Gewand, zerzaust ihr goldenes Haar und gefesselt an den
Händen! Die Jäger gaben dem König den
Zauberstab und berichteten alles, was sich zugetragen hatte. Der
König nahm den Stab und ging damit zu Liane. "Mir liegt nichts
an deinem Leben" sagte er, "aber du sollst hinfort keinen Schaden
wieder anrichten, und als Strafe für deine Missetat sollst du
in eine Eule verwandelt werden." Er berührte sie mit dem
Zauberstab und die schöne Fee schrumpfte zusammen und wurde
eine häßliche Eule. Mit einem schrillen Klagelaut
stieg sie hinauf in die Luft und flog dem Sumpfmoor zu. Da waren alle
wie erlöst, denn die böse Zauberin hatten Mensch und
Tier gefürchtet im Waldreich.
Als
Rotraut und Waltraut zum ersten mal wieder durch ihren geliebten Wald
schritten, da schmetterten die Vöglein laute Jubellieder und
die Waldbäume neigten ihre Wipfel noch tiefer. Hirsch und Reh
kamen heran und folgten den Schwestern nach. Die Waldtauben flogen
herbei und setzten sich zutraulich auf ihre Schultern. Da wollten auch
die Waldmäuschen nicht fehlen, kamen aus ihren Schlupfwinkeln
heraus und schlossen sich dem Zuge an. Die Schwestern waren
glückselig und sagten: "Wir danken euch, ihr treuen Tiere, ihr
habt uns erlöst."
Der
Waldkönig hatte noch viel Freude an seinen Töchtern
und sie wurden immer schöner. Aber auch die Frau
Oberhofmeisterin hat recht behalten. Rotraut und Waltraut sind wirklich
Königinnen geworden. Zwei edle Prinzen haben um sie gefreit.
Sie wurden sehr glücklich, doch ihres Vaters Waldreich und das
Sumpfmoor haben sie nie vergessen.
Heideröslein
Zu der
Zeit, als noch die Ritter lebten, stand eine stolze Burg auf einer
waldigen Anhöhe. Unter ihr breitete sich weithin die
grüne Heide aus. Die Burg bewohnte ein Ritter mit seiner Frau
und seinen beiden Söhnen und vielen Knechten und
Mägden. Die waren ihm alle treu ergeben, denn er war ein edler
Herr. Sein bester Knecht aber war Heinrich. Er wohnte nicht mit in der
Burg, sondern unweit davon mit seiner Frau Maren in einer kleinen
Hütte. Maren war sehr traurig darüber, daß
sie kein Kind ihr eigen nannte, denn sie war viel allein. Da brachte
ihr Heinrich eines Tages von einem Ritt über die Heide ein
weinendes Bündlein mit. Das hatte er unter einem
Heiderosenstrauch gefunden. In dem Bündlein aber lag ein
feingliedriges Mägdelein. Es war bekleidet mit einem Hemdlein
von allerfeinstem Linnen. Den goldigen Flaum des Köpfchens
bedeckte ein gesticktes Mützlein und um den Hals war ihm eine
goldene Kette gelegt, die hatte keinen Anfang und kein Ende. Maren
zerbrach sich den Kopf, wie wohl dieses feine Kindlein in die einsame
Heide gekommen sei. Aber sie nahm es liebevoll an ihr Herz und zog es
auf, als wenn es ihr eigen wäre. Weil es ihr Mann unter einem
Heiderosenstrauch gefunden hatte, nannten sie es Heideröslein.
Als das
Mägdelein herangewachsen war, konnte es keinen
schöneren Namen haben. Es hatte ein Gesichtlein so rosig und
hold wie eine eben erblühte Heiderose. Blaue, strahlende Augen
schauten aus ihm heraus und zwei Flechten, welche die Farbe reifer
Ähren hatten, hingen ihm über die Schultern herab.
Heideröslein half der Mutter überall, und diese
lehrte sie spinnen und nähen. Am liebsten aber war es ihr,
wenn sie der Vater mit hinaus nahm auf die Heide, dorthin, wo die Rosse
des Ritters aufwuchsen. Da tollte sie mit den Fohlen, oder sie
kletterte auf die größeren Pferde, und es dauerte
nicht lange, da konnte sie mit dem Vater um die Wette reiten.
Glückselig, aber mit gelösten Flechten, kam sie dann
heim. Da schalt die Mutter manchmal und sagte, sie wäre eben
doch ein wildes Heideröslein.
So
vergingen die Kinderjahre. Diesen kaum entwachsen, mußte sie
ihren ersten großen Schmerz erleben. Die Mutter wurde sehr
krank und als sie fühlte, daß sie sterben
mußte, rief sie Heideröslein an ihr Lager. Sie
ließ sich von ihr aus der Truhe ein Bündlein geben.
Es war das Linnenhemdchen und das gestickte Mützlein. Das gab
sie dem Röslein und sagte, daß sie nicht ihre Mutter
und Heinrich nicht ihr Vater wäre. "Vielleicht findest du im
Leben doch noch einmal deine richtige Mutter", sagte sie, "denn ich
werde von dir gehen müssen." Da weinte Heideröslein
bitterlich, sie umschlang die Mutter und schluchzte: "Ich will keine
andere Mutter haben, du sollst bei mir bleiben." Die Worte taten der
Kranken wohl, aber den Tod konnten sie nicht aufhalten, und ein paar
Tage danach starb sie.
Heideröslein
fühlte sich nun sehr unglücklich in ihrer
Verlassenheit. Das Linnenhemdchen und das bestickte Mützlein
versteckte sie unter ihrem Mieder und trug es nun immer bei sich. Oft
drehte sie auch an der goldenen Kette, die ihr jetzt eng um den
schlanken Hals lag und dachte darüber nach, wer wohl ihre
Eltern sein könnten und ob sie wohl noch am Leben
wären.
Inzwischen
waren auch die Söhne des Ritters zu stattlichen Junkern
herangewachsen. Sie hatten das Fechten und Reiten erlernt, konnten den
Speer werfen und wußten mit Pfeil und Bogen umzugehen. Das
Heideröslein kannten sie kaum, das war nur selten in die Burg
hineingekommen. Die stille Maren hatte sich und das Kind immer abseits
von dem übermütigen Burgvolk gehalten. Auch hatte sie
Heideröslein hinein gerufen, wenn sie die Junker aus dem
Burgtor heraus reiten sah. Jetzt aber schaute Heideröslein
gern den beiden nach und hatte ihre Freude daran, wenn sie mit ihren
Rossen über die Heide dahin stürmten. Besonders dem
Jüngeren, dem Junker Wolfram, klopfte ihr junges Herz
entgegen. Der war von edlem Wuchs und Angesicht, und lange braune
Locken fielen auf seine Schultern herab.
Oft
ritten auch fremde Ritter zur Burg hinauf. Wenn dann abends im Saal die
Becher kreisten, dann erzählten die Gäste von ihren
Fahrten und Abenteuern, von der Welt, die weit draußen hinter
der Heide lag, und von der Pracht an den Königshöfen.
Da lauschten die Söhne des Ritters. Besonders Wolfram, der
Jüngere, bekam glänzende Augen und konnte nicht genug
hören. Ihm war die väterliche Burg schon
längst zu eng und sein Sinn stand nach der Welt da
draußen. Eines Tages trat er vor seine Eltern und bat, sie
möchten ihn doch von der Burg ziehen lassen. Er wollte sich
ein Stück Welt ansehen und dann an einem Königshof
als Ritter dienen. Der Vater hatte nichts dagegen, aber allein wollte
er Wolfram nicht reiten lassen. Sein treuer Knecht Heinrich sollte ihn
begleiten, und der sollte sich noch einen Buben mitnehmen, der ihm
unterwegs bei der Pflege der Rosse helfe. Das war nun freilich nicht
nach dem Sinn des jungen Ritters. Am liebsten wäre er allein
in die Welt hinausgestürmt. Da er aber zum Gehorsam erzogen
war, fügte er sich dem Willen des Vaters. Seine Mutter aber
wurde sehr traurig, wenn sie an den Abschied dachte. Sie ließ
ihren Jüngsten nicht gern ziehen. Der Ritter jedoch
tröstete sie und meinte, allzulange werde die Fahrt nicht
dauern. So wurden alle Vorbereitungen zur Reise getroffen.
Heideröslein
aber weinte heiße Tränen, als sie davon erfuhr.
"Nimm mich mit, lieber Vater, und laß mich nicht allein
hier," bat sie. Heinrich aber schüttelte den Kopf und meinte,
ein Mägdlein können sie auf dieser Fahrt nicht
brauchen. "Dann will ich als Bub mitreiten," sagte sie, "und niemand
soll mich erkennen." Sie bettelte und schmeichelte so lange, bis
Heinrich einwilligte. Zu seinem Herrn sagte er, Verwandte
draußen in der Heide wollten seine Tochter aufnehmen und von
dort wollte er sich auch einen tüchtigen Rossbuben mitbringen.
Es wurde ihm nicht leicht, seinen Herrn so zu täuschen. Aber
er meinte gleich diesem, allzulange werde die Fahrt nicht dauern, und
Heideröslein würde sich bis dahin wohl tapfer halten.
Sie hatte nun viel zu tun. Sie kramte in der tiefen Truhe nach einem
festen Stoff für einen guten Wams und da sie geschickte Finger
hatte, war bald alles Nötige fertiggestellt. Was ihr aber noch
fehlte, das brachte der Vater von der Burg mit herunter.
Als nun
an einem Maienmorgen Wolfram mit Heinrich zum Burgtor hinauszog, ritt
ein schlanker Knabe hinterher. Es war das Heideröslein. Sie
hatte ohne Bedenken ihre blonden Flechten abgeschnitten und eine
Knappenmütze tief ins Gesicht gezogen. Das rosige Gesicht
hatte sie mit brauner Wurzelfarbe eingerieben und die zarten
Füße in derbe Stiefel gesteckt. Die Sonne ging
gerade auf, als sie den Burgberg hinunter trabten und als sie dann
unten über die Heide ritten, sah es aus, als hätten
Feenhände einen diamentenbesäten Schleier
darüber gezaubert. So blitzten und funkelten die Tautropfen in
dem goldenen Morgenlicht. Heideröslein meinte, so
schön wäre die Welt noch nie gewesen. Am liebsten
hätte sie in die Jubellieder der Lerchen eingestimmt, so
übervoll war ihr das Herz. Aber sie mußte
schön brav hinter dem Ritter und dem Vater herreiten. Von der
Burg herab wehten weiße Tücher, die letzten
Abschiedsgrüße, und fröhlich zogen die Drei
in den schönen Maientag hinein. Zwar schmerzten dem
Röslein am Abend in der Herberge alle Glieder von dem langen
Ritt, doch sie ließ sich nichts merken und nach und nach
gewöhnte sie sich daran. Wolfram beachtete sie am Anfang
garnicht. Doch er fand bald Gefallen an dem flinken und
fröhlichen Knaben und rief ihn oft an seine Seite. Oft weilten
sie auch längere Zeit an einem Flecken und Wolfram streifte
allein herum. Da erzählte er dann bei seiner Rückkehr
von mancher Gefahr, die er überstanden, und von manchem
Abenteuer, das ihm begegnet war.
Einmal
brachte er ein Kräutlein heim, das hatte ihm ein altes
Weiblein gegeben. Er hatte sie auf seinem Ross mit über ein
reißendes Wasser genommen. Zum Abschied sprach die Alte: "Das
Kräutlein wird dir große Kraft verleihen, wenn du es
zwischen deinen Fingern reibst!" "Aber ich halte nicht viel davon, ich
vertraue lieber auf meine eigene Kraft," sagte Wolfram. "Vielleicht
kannst du es einmal gebrauchen," sagte er zu Heideröslein. Sie
nahm es, steckte es in ihrem Wams und hütete es
sorgfältig.
Der
Sommer war schon ins Land gezogen, da kamen sie in der Stadt an, in der
der König wohnte. Wolfram bat einen Bediensteten sich um ein
Vorsprechen für ihn bei seinem Herrn zu verwenden und so bot
er dem König seine Dienste als Ritter an. Der König
war gern bereit, die Drei aufzunehmen, denn er meinte, ein so
jugendschöner Ritter würde seinem Hofe nur zur Zierde
gereichen. Wolfram zog nun mit Heinrich und Heideröslein in
die Königsburg ein und Heideröslein lernte das Leben
und Treiben an einem Königshof kennen. Sie staunte
über die glänzenden Turniere, die auf dem
großen Hof der Königsburg abgehalten wurden. Sie
bewunderte die reich geschmückten Edelfrauen und
Edelfräulein, die aus den Fernstern der Burg den Reiterspielen
zuschauten. Sie sah auch den König und die Königin.
Die Königin war wunderschön, aber sie hatte gar so
traurige Augen. Heideröslein hörte, wie die Leute
erzählten, daß sie vor Jahren ihr einziges Kind
verloren hätte. Auch Wolfram hörte davon, und eines
Tages sprach der König selbst mit ihm darüber. Er
erzählte ihm, daß in seinem Land ein Zauberer sein
Unwesen treibe. Dieser hatte einst zu seiner Ritterschaft
gehört. Er mußte aber daraus verstoßen
werden, weil er allen durch seine Zauberei unheimlich wurde. Aus Rache
über seine Verbannung hatte er dann den König mit
seinem Haß verfolgt und ihm das liebste geraubt, was ihm und
der Königin zu eigen war, das einzige Kind. Auf
rätselvolle Weise war es eines Tages verschwunden und nie
hatte sich wieder eine Spur von ihm gefunden. Sicher hatte es der
Zauberer verschleppt, wenn nicht gar getötet. Jetzt hauste er
in einem finsteren Wald unweit der Stadt, aber bisher war es noch
niemandem gelungen, ihn zum Kampf zu stellen. Die Erzählung
des Königs entfachte den Mut des jungen Ritters und er sagte,
er wolle mit dem Zauberer kämpfen. Doch der König
warnte ihn und sagte, der Gegner habe übernatürliche
Kräfte. Wolfram rief: "Ich fürchte weder Hexenspuk
noch Zauberei. Ich vertraue auf meinen starken Arm und mein gutes
Schwert." Da ließ ihn der König gewähren,
und ein paar Tage später ritt Wolfram zur Stadt hinaus.
Heideröslein war an seiner Seite. Sie sollte vor dem Wald auf
ihn warten und einstweilen sein Ross hüten.
Als der
junge Ritter in den Wald hinein trat, sah er keinen Weg und keinen
Steg. Nach langem Suchen entdecke er einen ausgetretenen Pfad, der an
einem Wasser entlang führte. Dem ging er nach und ein graues
Gemäuer tauchte vor ihm auf. Es sah sehr unheimlich aus mit
seinen vergitterten Fenstern. Verfallene Steinstufen führten
zu einem Altan hinauf. Dort öffnete sich jetzt eine
eisenbeschlagene Tür und ein Mann trat heraus. Halb war er wie
ein Zauberer gekleidet, halb wie ein Ritter. Seinen Kopf bedeckte eine
spitze Mütze und um die Hüften war ihm ein breites
Schwert gegürtet.
"Was willst du
hier?" schrie er Wolfram an. "Mit dir kämpfen!" sagte dieser.
Da lachte der Mann so gellend auf, das Waldvögel ringsum
erschrocken aufflatterten. Dabei hob er den Zeigefinger seiner rechten
Hand empor. Daran funkelte und gleiste ein breiter goldener Ring.
Wolfram fühlte, wie beim Anblick dieses Ringes alles in ihm
willenlos wurde. Die Hand, die das Schwert ziehen wollte, fiel schlaff
herab und einem unheimlichen Zwange folgend, ging er langsam
vorwärts, stieg die Steinstufen zum Altan empor und trat dem
Zauberer gegenüber.
Der aber
ging, immer noch mit erhobenem Finger, rückwärts
durch die Tür zurück in eine Halle. Dort
öffnete er eine der Türen, stieß Wolfram
hinein und schloß hinter ihm zu. Wie betäubt fiel
Wolfram zu Boden und, obgleich er sich mit allen Kräften
dagegen wehrte, verfiel er in einen leichten Halbschlaf. Wie lange der
angehalten, vermochte er nicht zu sagen. Aber er fühlte auf
einmal, wie ihm die Besinnung wiederkehrte. Er sah sich ihm Raum um. Er
war halbdunkel, denn nur durch ein kleines vergittertes Fenster
unterhalb der Decke flutete etwas Licht. Wolfram tastete an der
Türe und sie war verschlossen. An ein Entkommen war also nicht
zu denken. Er war wütend über seine verzweifelte
Lage. Nur der verwunschene Ring des Zauberers hatte ihn dahinein
gebracht. Gewaltsam wollte er den Blick davon abwenden, wenn er dem
Zauberer wieder gegenüber stehen würde. Bei diesem
Gedanken beruhigte er sich etwas, ließ sich auf einen Schemel
nieder und wartete.
Draußen
vor dem Walde aber wartete das Heideröslein. Als ihr Herr nach
Stunden nicht zurückkehrte, hielt sie es nicht mehr aus. Sie
band die Rosse an einen Baumstamm und lief in den Wald hinein.
Vielleicht war ihr Herr verwundet und bedurfte ihrer Hilfe. Aber wo
sollte sie ihn finden in diesem undurchdringlichen Wald? Sie irrte hin
und her und kam an eine Quelle. Als sie sich darüber beugte,
um sich zu erfrischen, hörte sein einen leisen Klagelaut. Er
kann aus einer Felsenspalte unweit der Quelle. Ein großer
Stein lag davor. Heideröslein wollte ihn
hinwegdrücken, aber ihre Kraft reichte nicht aus. Da dachte
sie an das Wunderkräutlein, rieb es zwischen ihren Fingern und
siehe da, sie konnte mit Leichtigkeit den Stein hinwegwälzen.
Aus dem Felsspalt heraus aber trat eine liebliche Erscheinung, die war
ganz ein weiße Schleier gehüllt. Sie schritt zur
Quelle und netzte ihre Stirn und ihre Lippen. Dann sagte sie: "Ich bin
die Nymphe dieses Quells und zu seiner Hüterin bestellt.
Während ich schlief, hat mir ein böser Zauberer den
großen Stein vor meine Höhle gelegt. Ich
wäre verschmachtet, wärest du nicht gekommen. Wie
soll ich dir danken?" Heideröslein sagte: "Helft mir,
daß ich meinen Herrn finde" und sie erzählte,
daß er ausgezogen sei, um mit diesem Zauberer zu
kämpfen. Da riß die Fee ein Stück von ihrem
Schleier ab und gab es Heideröslein. "Bedecke damit dein Haupt
und du wirst unsichtbar", sagte sie. "Dann gehe an dem Wasser entlang,
welches von diesem Quell ausgeht und du wirst an die Behausung des
Zauberers kommen. Dort mußt du sehen, daß du dich
seines Ringes bemächtigen kannst, denn ohne diesen ist er
machtlos." Heideröslein dankte der freundlichen Nymphe,
bedeckte ihr Gesicht mit dem Schleier und lief an dem
Wässerlein entlang bis zu der Behausung des Zauberers.
Öde und verlassen lag sie da.
Heideröslein
ging spähend umher, aber nichts regte sich. Sie stieg die
Steinstufen zum Altan hinauf und wollte die Türe
öffnen. Aber sie mußte erst wieder das
Wunderkräutlein zu Hilfe nehmen um diese schwere, mit Eisen
bewehrte, Tür zu öffnen. Dann erst konnte sie leise
eintreten. Der Zauberer saß schlafend inmitten der Halle. Vor
ihm auf dem Tisch stand eine Kanne und in einem Becher war noch ein
Rest mit süßem Wein. Die Hitze des Sommertages und
der genossene Wein mochten ihn wohl in den tiefen Schlaf versetzt
haben. Seine Hände lagen auf den Armlehnen des Stuhles, aber
einen Ring konnte Heideröslein daran nicht entdecken. Da griff
sie vorsichtig in die Tasche seines Wamses und zog einen
Schlüssel und den Ring heraus. Fast entrang sich ihrer Brust
ein Schrei der Freude. Sie probierte den Schlüssel und hatte
Glück, er paßte gleich zur ersten Türe.
Schnell nahm sie den Schleier vom Gesicht, öffnete die
Tür und trat hinein. Wolfram aber hatte das Geräusch
gehört und stand mit gezücktem Schwert bereit. Als er
aber Heideröslein erblickte, fragte er erstaunt: "Wie kommst
du hierher ?" Heideröslein gab ihm den Schleier und den Ring
und sagte: "Draußen sitzt der Zauberer in tiefem Schlaf und
du kannst ihn mit Hilfe des Schleiers und des Ringes leicht
überwältigen." Davon wollte Wolfram aber nichts
wissen. Offen und ehrlich, wie es sich für einen Ritter
gezieme, wollte er mit dem Gegner kämpfen.
Da,
plötzlich hörte man draußen ein
Wüten und Toben. Der Zauberer war erwacht und hatte wohl den
Verlust des Schlüssels und des Ringes bemerkt. Wolfram trat
schnell hinaus in die Halle. Als ihn der Zauberer sah, griff er
blitzschnell in seinen Wams, zog einen Dolch heraus und warf ihn nach
Wolfram. Der aber wich dem Wurf aus, ergriff sein Schwert und drang auf
den Zauberer ein. Da mußte auch dieser sein Schwert ziehen.
Doch der junge Ritter war ihm überlegen, und nach einem
kurzen, harten Kampf erhielt er von Wolfram den Todesstreich und
stürzte zu Boden. Nun erst hatte Wolfram Zeit, sich nach
Heideröslein umzusehen. Sie lehnte mit blutender Stirn an der
Wand, denn der Dolch des Zauberers hatte sie gestreift. Da ergriff
Wolfram ihre Hand und zog sie von der unheimlichen Stätte
hinweg. Unterwegs mußte er oft die Schwankende
stützen und als sie an der Quelle ankamen, war
Heiderösleins Kraft zu Ende. Sie ließ sich auf einen
Stein nieder und lehnte ihren Kopf an die Felswand. Wolfram aber
tauchte ein Tuch in das frische Quellwasser, um Heiderösleins
schmerzende Stirn damit zu kühlen. Behutsam zog er ihr die
Mütze vom Kopf. Da quoll ihm zu seinem Erstaunen blondes
Gelock entgegen und als dann mit dem Blut auch der Wurzelsaft
hinweggewaschen war, sah Wolfram in ein holdes, aber todblasses
Gesichtlein. Er sah auch die goldene Kette an dem schlanken Hals und
leise und beklommen fragte er: "Sag, wer bist du?" Da schlug
Heideröslein die Augen zu ihm auf, aber eine Antwort gab sie
ihm nicht. Nun hob Wolfram sie mit starkem Arm empor und trug sie zum
Walde hinaus. Dort setzte er sie vor sich auf sein Ross,
führte das andere am Zügel mit und ritt langsam der
Stadt und der Königsburg entgegen.
Vor dem
Tore wartete Heinrich. Als er aber Heideröslein mit
verbundener Stirn in des Ritters Armen sah, erschrak er sehr. Wolfram
deutete auf Heideröslein und sagte: "Heinrich, sprich die
Wahrheit, wer ist das ?" "Es ist meine Tochter, das
Heideröslein", stammelte Heinrich. Aber zu seiner
größten Verwunderung kam kein hartes Wort aus dem
Munde des jungen Ritters. "Sorge einstweilen für sie" sagte
er, "ich gehe zum König und zur Königin." Dort
berichtete er von dem Kampf mit dem Zauberer und zuletzt bat er die
Königin, sie möge das mutige Heideröslein in
ihre Obhut nehmen. Da ließ die Königin
Heideröslein in ihre Gemächer holen.
Als ihre
Mägde sie entkleideten, fanden sie an ihrem Herzen das
Linnenhemdlein und das gestickte Mützlein. Sie zeigten es der
Königin und diese erkannte es sogleich wieder. Sie selbst
hatte es vor Jahren genäht und bestickt für ihr
einziges, geliebtes Kindlein. Sie eilte zu Heideröslein und
erkannte auch die goldene Kette an ihrem Hals. Heinrich wurde geholt.
Er berichtete nun getreulich, wann und wo er Heideröslein
gefunden hatte. Da gab es keinen Zweifel mehr, Heideröslein
war die verschwundene Tochter des Königspaares. Noch ahnte sie
nichts von ihrem Glück, denn ein heftiges Fieber hatte sie
befallen. Als Wolfram von Heiderösleins Herkunft
hörte, wurde er sehr traurig. Eine tiefe Liebe zu ihr hatte
ihn erfaßt und er konnte sich ein Leben ohne
Heideröslein nicht mehr vorstellen. Nun aber war sie eine
Königstochter und für ihn unerreichbar.
Auf
Befehl des Königs mußte Wolfram mit des
König's Mannen noch einmal hinaus in den Wald die Behausung
des Zauberers zu vernichten. Mit Pech und Stroh wurde sie in Brand
gesteckt und mitten in die lodernden Flammen hinein warf Wolfram den
Zauberring. Unter Schutt und Asche sollte er begraben sein, damit ihn
nie wieder eines Menschen Hand mißbrauche. Auf dem Heimritt
dachte Wolfram an Heideröslein. Einmal wollte er sie noch
wiedersehen. Dann wollte er die Königsburg und die Stadt
verlassen und mit Heinrich weiter in die Welt hinausziehen.
Heideröslein aber war noch immer krank. Als sie das erste mal
ihre Augen aufschlug, wußte sie nicht, ob sie wachte oder
träumte. Sie hatte ein weißes, weiches Gewand an und
lag in einem schönen Bett. An dem Bett aber saß der
König und die Königin und die Königin
blickte nicht mehr traurig. Sie legte ihren Arm um
Heideröslein und sagte: "Ich bin deine Mutter und der
König ist dein Vater, denn du bist Gundhild, unsere tot
geglaubte Tochter." Da schloß Heideröslein ihre
Augen schnell wieder zu, denn soviel Glück auf einmal konnte
sie noch nicht ertragen.
Als sie
nach langer Zeit endlich ganz genesen war, wurde ein großes
Fest gefeiert und alle Edlen des Landes waren dazu eingeladen. Sie
hatten sich alle im Saal der Königsburg versammelt und
warteten auf das Erscheinen des Königspaares. Auch Wolfram war
unter ihnen. Er konnte kaum den Augenblick erwarten, in dem er
Heideröslein wiedersehen sollte. Als sie dann mit ihren Eltern
den Saal betrat, setzte ihm fast der Herzschlag aus. Sie war so
wunderschön, und als wäre sie nie etwas anderes
gewesen als eine Prinzessin, so schritt sie neben dem König
und der Königin einher. Sie hatte ein goldgesticktes Gewand an
und über ihren goldenen Locken lag ein zarter Schleier, den
hielt ein funkelndes Krönlein fest. "Das ist unsere geliebte,
totgeglaubte Tochter Gundhild", rief der König in den Saal
hinein. Da zogen alle Ritter und Edelfrauen und Edelfräullein
am Thron vorüber und verneigten sich tief vor
Heideröslein. Als letzter schritt Wolfram heran, doch der
König hatte ihn schon erwartet. Er zog ihn zum Thron hinauf
und sagte laut zu allen Gästen: "Dieser junge Ritter hat unser
Land von dem bösen Zauberer befreit und durch ihn ist uns
Gundhild von neuem geschenkt worden. Zum Dank dafür soll sie
ihm ihre Hand reichen und er soll ihr Gemahl sein." Er nahm
Heiderösleins Hand und legte sie in die von Wolfram. Der
konnte sein Glück kaum fassen, aber Heideröslein
schaute ihn schelmisch an und fragte: "Weißt du nun, wer ich
bin?"
Ein so
fröhliches Fest hatte wohl der alte Saal der
Königsburg noch nicht gesehen, und ein noch schöneres
folgte, Heiderösleins Hochzeit. Daran nahm die ganze Stadt
teil und Heinrich hatte einen Ehrenplatz an der Hochzeitstafel. Er war
sehr stolz auf sein schönes Pflegetöchterlein und er
hätte nur gewünscht, die gute Maren hätte
das alles miterlebt.
Als aber
die Hochzeit mit ihren rauschenden Festtagen vorüber war,
packte ihn das Heimweh, er trat vor Wolfram und bat: "Entlaßt
mich aus euren Diensten. Ich habe Sehnsucht nach der Heide, nach der
Burg und nach meinem edlen Herrn, eurem Vater." Wolfram ließ
den treuen Knecht nicht gerne ziehen und Heideröslein hing ihm
weinend am Halse. Mit reicher Wegzehrung und vielen Geschenken
verließ der treue Knecht die Stadt und Wolfram und
Heideröslein gaben ihm ein Stück das Geleit.
Die
beiden waren sehr glücklich und Wolfram stand weiterhin in
treuem Dienste beim König, so daß dieser oft sagte,
wenn Wolfram einmal nach ihm den Thron besteigen würde,
könnte sich das Land keinen besseren König
wünschen. Wenn das Wolfram hörte, sagte er jedesmal
scherzend zu seiner jungen, wunderschönen Gemahlin: "Und du
wirst dann eine Königin sein, aber für mich bist und
bleibst du doch immer - das Heideröslein."
Prinzessin
Morgenröte
Vor
vielen Jahren, es mögen wohl tausend sein, stand am Meer ein
stolzes Schloß. Das schaute mit blanken Fenstern hinaus auf
die See. Drinnen wohnte ein edles Königspaar mit ihrem
einzigen Töchterlein, der Prinzessin Morgenröte. Die
Prinzessin war aber auch schön wie die Morgenröte,
die früh am Himmel über dem Meer heraufzog. Sie war
aber nicht nur schön, sondern auch gut. Zu jedermann war sie
freundlich, und wer sie nur von weitem sah, dem lachte das Herz im
Leibe. Der Ruf von ihrer Schönheit und Güte war schon
über die Grenzen des Königreiches gedrungen, und
mancher edle Königssohn hatte sich schon um ihre Hand
beworben. Sie schüttelte aber allemal ihre Locken und sagte,
sie verspüre noch gar keine Lust, eine Königin zu
werden, viel lieber wollte sie bei Vater und Mutter bleiben. Die
redeten ihr auch niemals zu, einem der Freier ihre Hand zu reichen. Sie
waren froh, ihr holdes Kind noch für sich zu haben.
Schon von
frühester Kindheit an liebte die Prinzessin das Meer, und
immer war sie am Strand zu finden. Da suchte sie Muscheln, oder sie
lief mit dem Wind um die Wette, daß ihr die goldenen Locken
flogen. Nun, da sie ein Jungfräulein geworden war,
löste sie sich oft aus dem Kreis ihrer Gespielen und
saß still am Meeresufer. Da sah sie dem Spiel der Wellen zu,
oder sie verfolgte den Flug der Seevögel am Himmel. Manchmal
dachte sie auch darüber nach, wie es wohl auf dem Meeresgrund
aussehen möge und ob die Wassergeister, die da wohnten, gut
oder böse wären. Da sah sie einmal, wie eine
glitzernde Krone am Meeresufer empor tauchte. Die verschwand
für Augenblicke und kam dann wieder in die Höhe. Die
Prinzessin lief hinterher, weil sie meinte, eine Welle müsse
sie einmal ans Ufer werfen. Und sie lief und lief und merkte gar nicht,
wie weit sie sich vom Schloß entfernte. Auf einmal war die
Krone verschwunden und kam auch nicht wieder zum Vorschein.
Plötzlich
spürte Morgenröte, daß sie müde
war, und sie wollte erst eine Weile ruhen, ehe sie den Rückweg
antrat. Da sah sie, wie unzählige Silberfischlein zum Ufer
geschwommen kamen, die drängten sich mit ihren Rücken
dicht aneinander und bildeten eine silberne Straße, die weit
ins Meer hinein führte, und neben dieser Straße
tauchte die glitzernde Krone wieder auf. Da vergaß die
Prinzessin ihre Müdigkeit. Sie hob ihr seidenes Gewand empor
und trat mit ihren goldenen Schuhen leise und behutsam auf die
Rücken der Fischlein und schritt
leichtfüßig darüber hin. Nicht einmal
Herzklopfen hatte sie dabei, denn es war schön, so
über den Wellen hinwegzulaufen.
Doch auf
einmal war die Straße zu Ende und das Meer tat sich vor ihr
auf und eine silberne Treppe führte hinunter zum Meeresgrund.
Da bekam es Morgenröte aber doch mit der Angst zu tun. Sie
wollte schnell umkehren, aber, o Schrecken, die Fischlein waren alle
auseinander geschwommen und das fürwitzige Prinzesslein
mußte die Treppe hinunter steigen. Da nahm sie aber nicht
drei Stufen auf einmal, wie daheim im väterlichen
Schloß. Langsam und zögernd ging sie Stufe
für Stufe. Der Meeresgrund war in ein grünes
Dämmerlicht gehüllt. Als sich ihre Augen daran
gewöhnt hatten, sah sie vor sich ein silbernes
Schloß. Das stand auf einem roten Korallenfelsen. So etwas
Schönes hatte Morgenröte noch nie gesehen und sie
stand und staunte und wußte nicht, wohin sie sich wenden
sollte. Da kamen zwei Jungfrauen heran, die hatten lange, wallende
Gewänder. Sie nahmen Morgenröte bei der Hand und
sagten: "Der Meerkönig erwartet euch", und führen sie
zum Schlosse empor.
Zuerst
kamen sie in eine Halle. Da waren die Wände mit
unzähligen kleinen Muscheln bedeckt. Seltsame Blumen und
Pflanzen standen da, die wurden von einen silbernen Springbrunnen mit
feinen Wasserperlen übersprüht. Die Halle
führte in einen großen Saal, da waren die
Wände aus goldgelben Bernstein. Inmitten des Saales stand ein
prächtiger Thron. Darauf saß der Meerkönig.
Zu beiden Seiten des Thrones lagen Wassernixen, die hatten goldene
Hafen und goldene Flöten in den Händen. Der
Meerkönig begrüßte Morgenröte
feierlich und sie mußte sich neben ihn setzten. Er hatte ein
gutes Aussehen und sein Haupt schmückte eine glitzernde Krone,
es war dieselbe, die Morgenröte oben auf dem Meer gesehen
hatte. Auf ein Zeichen von ihm spielten die Nixen auf ihren Harfen und
Flöten und eine liebliche Musik ertönte.
Seejungfrauen schwebten in den Saal. Sie hatten grüne Schleier
in den Händen und schwangen sich nach der Musik im Reigen und
huldigten der Prinzessin. Dann kamen fliegende Fische. Silberne und
goldene und welche, die in allen Farben schillerten. Die ordneten sich
zu zierlichen Figuren und zogen am Thron vorbei. Kleine Seepferdchen
stürmten in den Saal und führten ein Wettrennen auf.
Zuletzt kamen Schildkröten und Eidechsen hereinmarschiert,
Molche, Krebse und Frösche folgten. Die wollten auch tanzen,
aber ihre Sprünge waren so komisch, daß
Morgenröte sicher ihre Freude daran gehabt hätte.
Aber das Herz war ihr aufeinmal schwer geworden, denn sie dachte an
ihre Eltern und welche Angst und Sorge diese wohl durch ihr
Verschwinden haben würden. Still und traurig saß sie
neben dem Meerkönig und hatte kaum ein Lächeln
für das fröhliche Treiben im Saal. Als ihr dann die
Nixen köstliche Früchte und Wein reichten, da wollte
sie nichts essen und trinken. Da meinte der Meerkönig, sie
wäre müde und er befahl, man solle sie zur Ruhe
bringen. Die beiden Jungfrauen, die sie zum Schloß
geführt hatten, führten sie aus dem Saal in eine
rosenrote Grotte. Da lag auf einem goldenen Gestell eine
große Perlmuttermuschel, angefüllt mit
grünem Moos, die sollte der Prinzessin zum Lager dienen. Wie
betäubt sank sie darauf hin und fiel in einen tiefen Schlaf.
Als sie
am Morgen erwachte, standen die Jungfrauen vor ihrem Lager und fragten
nach ihren Wünschen und Befehlen. Sie schmückten
Morgenröte aufs prächtigste und flochten ihr
Perlenschnüre ins Haar. Dann wurde sie zum Meerkönig
geführt. Der erwartete sie schon voller Ungeduld, denn er
wollte ihr sein Schloß zeigen. Das war sehr groß
und von innen ebenso prächtig wie von außen. Aber
alles war so seltsam, so ganz anders als im Schloß am Meer.
Zuletzt öffnete der Meerkönig die Schatzkammer. Da
standen viele goldene Schalen, bis zum Rand gefüllt mit bunten
Edelsteinen und köstlichem Geschmeide, goldene Teller,
Schüsseln, Kannen und Becher. Morgenröte war ganz
geblendet von dem Glanz, der von diesen Schätzen ausging. Doch
der Meerkönig faßte sie bei der Hand und sagte:
"Schöne Prinzessin, alles, was du bis jetzt gesehen hast, soll
von nun an auch dir gehören, denn ich will dich zur
Meerkönigin krönen." Er erzählte ihr dann,
daß er schon lange ein Wohlgefallen an ihr habe. Oft habe er
sie am Strand belauscht und gestern sei er unter dem Wasser vor ihr her
geschwommen und durch seine glitzernde Krone habe er sie hierher
gelockt. Da erschrak die arme Morgenröte und ihre Augen
füllten sich mit Tränen. Sie hob ihre Hände
zum Meerkönig empor und flehte ihn an, er möge sie
doch wieder zu ihren Eltern zurücklassen, sie würde
hier unten sterben vor Sehnsucht. Der Meerkönig konnte nicht
empfinden wie die Menschen, aber die Tränen der
schönen Prinzessin rührten ihn und er sagte: "Ehe wir
Hochzeit halten, darfst du noch dreimal nach Sonnenuntergang auf die
Meeresoberfläche hinauf und eine Stunde oben verweilen. Kommt
dann jemand, um dich zu befreien, dann will ich auf dich verzichten."
Er meinte wohl, es würde sich niemand finden. Was
wußte denn auch der Meerkönig von dem Tun und
Treiben der Menschen! In das Herz der armen Morgenröte aber
fiel ein Hoffnungsstrahl. Voll Ungeduld erwartete sie den Abend. Als
die Sonne im Meer versunken war, durfte sie in einem goldenen Nachen
zur Meeresoberfläche hinaufsteigen und auf Befehl des
Meerkönigs mußten sich ringsum die Wogen
glätten und der Wind mußte sein Brausen einstellen.
Morgenröte war selig, als sie den Himmel über sich
sah. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie ihn ans Herz
drücken. Dann blickte sie sehnsüchtig übers
Meer, aber nichts war zu sehen! Da rief sie weinend nach Vater und
Mutter, doch niemand hörte es, denn der Wind durfte ja ihre
Worte nicht weitertragen. Da saß sie nun traurig in ihrem
Nachen und nach einer Stunde mußte sie wieder hinunter auf
den Meeresgrund.
Inzwischen
war oben im Königsschloß große Sorge
eingekehrt. Als man das Verschwinden der Prinzessin bemerkte, wurde sie
überall gesucht. Das Meeresufer wurde mit Fackeln
abgeleuchtet, aber keine Spur war zu finden. Da schickte der
König noch in derselben Nacht reitende Herolde durchs Land,
die mußten verkünden, daß der
König denjenigen reich belohnen wolle, der die Prinzessin
wiederbringe. Denn der König und die Königin konnten
und wollten es nicht glauben, daß ihr holdes Kind im Meer
ertrunken sei. Eher glaubten sie, daß die Prinzessin von
einem Zauberer oder einer bösen Fee entführt
wäre.
Nun war
gerade wieder ein fremder Königssohn im Lande, der hatte von
dem Liebreiz der Prinzessin Morgenröte gehört und
wollte sich um ihre Hand bewerben. Er vernahm den Aufruf des
Königs. Er ritt sofort in das Schloß am Meer und
ließ sich zum König führen. Der war sehr
unglücklich und voller Gram seit Morgenrötes
Verschwinden. Aber der Prinz tröstete ihn und versprach, er
werde alles daransetzen, die Prinzessin wiederzufinden, auch sein
eigenes Leben. Dem König gefiel der mutige Prinz und er
ließ ihm ein prächtiges Gemach im Schloß
geben. Der mochte aber nicht darin verweilen. Er lief im
Schloß umher, ging in die Küche und in die
Ställe, um etwas über die Prinzessin zu erfahren.
Aber niemand konnte ihm etwas genaues sagen. Nur der alte
Turmwächter erzählte ihm, daß er von seinem
Turm aus gesehen habe, wie die Prinzessin am Meeresufer entlanggegangen
sei und er zeigte ihm die Richtung. Da ging auch der Prinz hinunter ans
Meer. Grau und düster lag es vor ihm, nur in der Ferne sah er
ein geheimnisvolles Leuchten. Da lief der Prinz immer weiter, um zu
ergründen, was das zu bedeuten habe und er konnte erkennen,
daß dieses seltsame Leuchten von einem goldenen Nachen
ausging. Drinnen saß eine wunderschöne Jungfrau, die
breitete ihre Arme zum Himmel aus. Der Prinz starrte wie verzaubert auf
das schöne Bild, und er mußte sehen, wie es nach
wenigen Minuten in den Wellen versank. Da wußte der
Königssohn, daß er die Prinzessin
Morgenröte gesehen hatte und eine tiefe Liebe zu ihr
erfüllte sein Herz. Die ganze Nacht blieb er am Meer und
hoffte, der goldene Nachen würde noch einmal emporsteigen.
Erst als das Frührot heraufdämmerte, ging er ins
Schloß zurück.
Aber von seinem Erlebnis
erzählte er niemandem etwas.
Unter den
Schiffen des Königs suchte er sich ein kleines Segelschiff
heraus und fuhr hinaus aufs Meer. Dort kreuzte er hin und her. Vorher
war er noch einmal beim König und sagte ihm, daß er
die Prinzessin finden wolle und nur mit ihr zusammen wolle er
zurückkehren.
Die arme
Prinzessin Morgenröte war aber noch tief unten auf dem
Meeresgrund. Traurig lag sie auf ihrem Moospolster und dachte mit
heißer Angst daran, daß sie heute Abend den Himmel
vielleicht zum letzten Mal sehen sollte. Der Meerkönig aber
frohlockte im Stillen, denn er hoffte, die Prinzessin doch noch
für sich zu gewinnen. Daß sie aber so traurig war,
gefiel ihm gar nicht und er versuchte alles, um sie zu erfreuen. Er
brachte ihr die schönsten Wasserrosen und breitete Perlen und
Edelsteine vor ihr aus. Aber die Schwermut der Prinzessin wollte nicht
weichen. Da verließ der Meerkönig traurig die Grotte
und gab Befehl, die Prinzessin durch Tanz und Saitenspiel zu
zerstreuen. Die aber merkte gar nicht, was um sie her vorging, ihre
Seele war oben im Erdenland und als der Abend gekommen war, durfte sie
in dem goldenen Nachen zur Meeresoberfläche hinaufsteigen und
auf Befehl des Meerkönigs mußten sich ringsum die
Wogen glätten und der Wind mußte sein Brausen
einstellen.
Es
dunkelte schon und der Himmel schmückte sich gerade mit den
ersten mattsilbernen Sternen. Zu denen hob Morgenröte ihre
Hände empor und flehte sie an, sie möchten doch
heller leuchten, damit ein Retter den Weg zu ihr finde.
Da war
es, als hätten die Sternelein die Bitte des armen
Königskindes verstanden, denn sie fingen auf einmal an zu
blitzen und zu funkeln. Vielleicht hatten sie es auch dem Mond gesagt,
denn der schob einen Wolkenvorhang beiseite und schickte seine
silbernen Strahlen hinunter aufs Meer. Da wurde es ganz hell und
Morgenröte konnte sehen, wie ein Segelschifflein auf den
Wellen daher kam. Da wollte ihr bald das Herz zerspringen vor Freude.
Es war der Königssohn, der hatte den ganzen Tag das Meer nach
dem goldenen Nachen abgesucht. Nun hatte er endlich das seltsame
Leuchten wahrgenommen und lenkte sein Schifflein dahin. Aber, o
Schrecken, das wollte auf einmal nicht mehr weiter. Die Segel sanken
schlaff herab, denn der Wind durfte ja hier nicht wehen. Da gab es
für den Prinzen kein langes Besinnen, denn er
fürchtete, der goldene Nachen könnte wieder
entschwinden. Er warf seine Waffen ab und sprang hinunter ins Meer.
Auch Morgenröte hatte gesehen, wie das Schifflein auf einmal
still lag und ihre Freude verwandelte sich in Angst. Da tauchte der
Königssohn aus den Wellen empor. Er kam an die Nachen heran,
hob Morgenröte schnell heraus und wollte zu seinem Schifflein
zurückschwimmen. Doch das war gar nicht so leicht, denn das
Meer begann unruhig zu werden und der Prinzessin waren vor Angst und
Schrecken die Sinne geschwunden. Da mußte der Prinz alle
Kraft und allen Mut zusammennehmen, um sein Ziel zu erreichen. Er
konnte Morgenröte auch glücklich in dem Schifflein
bergen und schwang sich dann selbst hinein. Noch einmal schaute er
zurück, doch der goldene Nachen war schon in den Wellen
versunken. Nun durfte auch der Wind wieder wehen und er sauste und
brauste und blähte die weißen Segel auf. Da flog das
Schifflein dahin, dem heimatlichen Ufer zu. Auf dem Turm des
Königsschlosses aber hielt der alte Turmwächter
Ausschau. Neben ihm stand der König. Den hatte die Unruhe und
die Angst aus dem Schloße hier hinauf getrieben. Als der alte
Turmwächter das Schifflein erblickte, stieß er hell
und freudig in sein Horn.
Da eilten
alle aus dem Schloß heraus und hinunter ans Meer, auch der
König und die Königin. War das ein Jubel, als der
Königssohn die Prinzessin aus dem Schifflein hob! Zwar hing
sie ohnmächtig in seinem Arm und Wasserbächlein
rieselten von ihrem seidenen Gewand, aber alle sahen doch,
daß sie lebte. In dieser Nacht schlief niemand vor Freude im
Schloß, nur die Prinzessin lag in festem, tiefen Schlaf. Die
Königin hatte sie selbst mit den Kammerfrauen zur Ruhe
gebracht. Man hatte ihr die goldenen Locken getrocknet und die leblosen
Glieder mit stärkendem Balsam eingerieben. Da hatte die
Prinzessin die Augen aufgeschlagen, war aber sofort wieder
eingeschlafen. Sie erwachte erst, als am andern Tag die Sonne mit ihren
Strahlen durch ihren seidenen Bettvorhang lugte. Da richtete sie sich
auf, schaute sich um und sagte.: "Was hatte ich doch für einen
seltsamen Traum." Als sie dann aber im Saal vor dem König und
der Königin stand, und den Prinzen daneben erblickte,
wußte sie, daß es kein Traum war.
Ihre
Eltern herzten und küßten sie und die Freude nahm
kein Ende. Dann legte der Prinz seinen Arm um sie und sagte: "Holde
Prinzessin, nun gebe ich dich nicht mehr frei. Willst du mit mir in
meines Vaters Reich ziehen und meine Königin werden?" Da
erglühte die Prinzessin und in diesem Augenblick war sie noch
schöner, als die Morgenröte, die früh am
Himmel über dem Meer heraufzog. Diesmal aber
schüttelte sie ihre goldenen Locken nicht, sondern sie
willigte gern ein. Da gaben auch der König und die
Königin ihren Segen. Die Hochzeit wurde bald gefeiert. Am
Hochzeitsmorgen ging Morgenröte mit dem Prinzen noch einmal
hinunter ans Meer. Sie wollte Abschied nehmen. Sie war so froh und
glücklich, nur wenn sie an den Meerkönig dachte,
verspürte sie ein leises Unbehagen, denn sie hatte ja ein
gutes Herz und wollte niemanden kränken, auch den
Meerkönig nicht. Da kam eine Welle heran und warf den Beiden
zwei glitzernde Kronen vor die Füße, die
Hochzeitsgabe des Meerkönigs.
Da freue
sich Morgenröte, denn nun wußte sie, daß
der Meerkönig keinen Groll gegen sie hegte. Vielleicht hatte
er eingesehen, daß eine Prinzessin aus dem Menschenland nicht
zur Meerkönigin tauge.
Eine
prächtige Hochzeit wurde nun gefeiert. Mit den glitzernden
Kronen geschmückt zog das Brautpaar im Hochzeitszug dahin und
noch lange hinterher erzählten sich die Leute, daß
es noch niemals eine so schöne junge Königin gegeben
habe, wie die Prinzessin Morgenröte.
Vroni
und Fridolin
Im
schönen Alpenland, wo eis- und schneebedeckte Felsen die
grünen Berge überragen, stand in einem der vielen
Täler ein stattlicher Bauernhof. Die Ache, die das Wasser von
den Bergen hinunter führte, floss brausend an ihm
vorüber und deshalb wurde er weit und breit der Achenhof
genannt.
Der Bauer
und die Bäuerin, die dort wohnten, waren sehr stolz auf ihren
Besitz, aber ihr größter Stolz war doch ihr einziger
Bub, der Fridolin. Der war immer fröhlich und guter Dinge und
schaute mit blitzenden Blauaugen in die schöne Bergwelt
hinein. Dem Vater ging er schon tüchtig zur Hand und der
meinte, es würde einmal ein richtiger Bauer aus ihm werden. Wo
der Fridolin war, da war auch die Vroni, ein herziges Dirnlein. Sie war
die Tochter vom Großknecht Jürgen. Ihre Mutter hatte
die Augen für immer geschlossen, als Vroni das erstemal mit
ihren Blauaugen in die Welt hinein guckte. Da hatte sich die
Bäuerin des mutterlosen Waisleins angenommen und es mit
Fridolin, der ein paar Jahre älter war, zusammen aufgezogen.
Nun war
wieder einmal die Zeit der großen Schneeschmelze vorbei und
der Bauer meinte, das Vieh könnte nun hinauf auf die Alm
getrieben werden. Darauf freute sich besonders die kleine Vroni, denn
sie durfte heuer das erste Mal mit dabei sein. Tags zuvor hatte sie
alle Hände voll zu tun. Sie lief hinaus auf die Wiese und
pflückte ihr Schürzlein voll Blumen. Daraus band sie
Kränze und Girlanden, denn die Kühe sollten doch
schön geschmückt werden. In der Nacht schlief sie
nicht und früh war sie die Erste auf dem Hof und im Stall und
putzte die Kühe schön heraus. Muhend liefen sie
durcheinander und wenn Vroni ihre Sprache verstanden hätte,
dann würde sie gehört haben, wie sich die Tiere auf
die Alm freuten. Dort wuchsen so würzige Kräuter und
überall rieselten die frischen Quellen und in den Stall
brauchten sie nicht und konnten Tag und Nacht im Freien bleiben.
Jedes
Tier hatte eine Glocke um den Hals und es gab ein melodisches
Geläute, als sie dann alle zum Tor hinaus zogen. Voran Tobias,
der alte Senn, und Kathrin, die Kuhmagd, und Seppl, der
Hütebub, und zuletzt Fridolin und Vroni, die stolz ihr
Bündlein trug. Der Bauer und die Bäuerin begleiteten
den Zug bis zum Ende des Tales und dann ging es hinauf in die Berge.
Bei jeder Wegbiegung schauten sich die Kinder um und freuten sich, wie
der Achenhof immer kleiner und kleiner wurde und schließlich
ihren Blicken ganz entschwand. Für Vroni war alles neu und sie
fand den Aufstieg wunderschön. Vor jeder Blume blieb sie
stehen und von jeder Quelle wollte sie trinken.
Oben auf
der Alm wußte sie nicht, was sie zuerst bewundern sollte. Sie
durchstöberte alle Ecken der Sennhütte und kletterte
die Leiter zum Heuboden hinauf und erklärte am anderen Morgen,
daß sie noch nie so gut geschlafen habe, wie da oben im
duftenden Heu. Die Kinder waren nun den ganzen Tag im Freien bei der
Herde. Fridolin lag im Grase und Vroni pflückte Blumen und
wand unermüdlich Kränzlein daraus für sich
und den Fridolin. Machmal bekam auch Seppl, der Hütebub, eines
ab für sein verwittertes Filzhütlein.
Wenn
einmal ein Regentag kam, dann hockten sie bei Tobias in der
Küche und schauten ihm zu, wie er die Milch in dem
großen Kessel rührte und den guten Käse
daraus bereitete. Vor Tobias hatten sie viel Respekt. Er war schon
jahrzehntelang hier oben als Senn gewesen und da hatte er manches
erlebt in der Bergeinsamkeit. Er zeigte den Kindern den gewaltigen
Felsen, der ein Dach von Schnee und Eis hatte und erzählte,
daß er als junger Bursche da hinauf gestiegen war, aber da
sei ihm der Gletscherkönig entgegengetreten und hatte mit
Eisstücken nach ihm geworfen. Beim Abstieg hatte er sich dann
verirrt und er hatte gemeint, er würde sich nimmer zur
Sennhütte zurückfinden. Da sei zur rechten Zeit die
Bergfee gekommen und habe ihn auf den richtigen Pfad geführt.
Die Bergfee wäre so wunderschön, daß ihm
schier der Atem vergangen sei. Er hatte auch die Felsenhexe gesehen.
Das war ein altes garstiges Weib und wohnte oben in den Bergen in einer
Höhle. Sie kam aber auch oft ins Tal herunter, schlich sich an
die Herde heran und nahm den Kühen die Milch weg. "Wenn ihr
sie einmal seht", sagte Tobias zu den Kindern, "dann geht ihr aus dem
Wege und spottet nicht über sie. Das kann sie nicht vertragen
und sie wird böse und gebraucht ihre Zauberrute."
Wenn die
Kinder wieder allein waren, dann schauten sie zu dem gewaltigen Felsen
hinauf und sie meinten, die Bergfee würden sie gern einmal
sehen, aber den Gletscherkönig und die Felsenhexe nicht.
Eines
Tages fehlte eine Kuh aus der Herde und Fridolin und Seppl, der
Hütebub, gingen aus, um sie zu suchen und jeder ging nach
einer anderen Richtung. Als der Abend kam, fand sich die Kuh mit vollem
Euter wieder ein und auch der Hütebub kehrte zurück.
Aber Fridolin kam nicht wieder, auch in der Nacht und am folgenden
Morgen nicht. Da schickte Tobias in seiner Angst und Sorge den Seppl
hinunter ins Tal zum Achenhof.
Vroni
aber war sehr traurig über Fridolins Verschwinden. Sie lief
umher wie in geknicktes Blümlein und klagte jedem Stein am
Wege ihr Herzeleid. In der Nacht fand sie keinen Schlaf und dachte nur
immer an Fridolin. Wo mochte er nur sein, der liebe, gute Bub? Ob sie
wohl einmal die Bergfee aufsuchte? Die würde ihr wohl sagen
können, wo er sich befand. Sie überlegte hin und her,
stand dann auf und kleidete sich leise an, um die schlafende Kathrin,
die mit ihr die Kammer teilte, nicht zu wecken. Vorsichtig stieg sie
die Leiter hinab in die Küche und steckte ein Stück
trockenes Brot zu sich. Dann ging sie aus der Hütte hinaus an
den schlafenden Kühen vorüber und stieg den Berg
hinan. Noch war es Nacht, aber dunkel war es nicht und Vroni konnte
sehen, wohin sie stieg. Immer höher ging es hinauf. Sie
achtete nicht darauf, daß sie am Gestrüpp ihr
Röcklein zerfetzte und daß ihr das harte Gestein die
Füße wund ritzte. Sie hatte nur den einen Gedanken,
Du mußt den Fridolin suchen! Laut rief sie manchmal seinen
Namen, aber nur das Echo von der nahen Felsenwand antwortete. So
kletterte sie tapfer weiter und kam auf einmal in ein kleines
Felsental. Da fand sie sich nicht wieder hinaus. Ihre
Füße brannten und schmerzten und sie setzte sich auf
einen Stein. Ein Busch stand davor und Vroni sah im Morgengrauen,
daß es ein Rosenbusch war. Da seufzte sie vor sich hin: "Ach
du schöner Rosenbusch, wenn du mir doch sagen
könntest, wo ich den Fridolin finden kann." Da erklang eine
leise Stimme aus dem Busch: "Das kann ich dir nicht sagen, da
mußt du die Bergfee fragen, die geht bei Sonnenaufgang durch
dieses Tal." "Seit wann können denn die Blumen sprechen?"
fragte verwundert die Vroni. Da klang es wieder aus dem Rosenbusch: "Du
bist im Zauberreich der Bergfee, da können die Blumen und
Tiere sprechen."
"Oh," sagte
Voni, "das ist schön, da kann ich nun jede Blume und jedes
Vöglein nach dem Fridolin fragen". Sie schloss ihre Augen und
nach einer Weile schaute sie wieder um sich und sie sah, wie der Himmel
hell wurde und wie die Schneegipfel der Berge im hellen Morgenrot
erglühten. Die Sonne geht auf, dachte Vroni und sie sah, wie
eine wunderschöne Frau aus dem Felsen heraustrat. Ihr Gewand
war rein und weiß wie Firnschnee, durch ihre dunklen Locken
war ein Kranz von Edelweiss geschlungen und von ihrer Schulter herab
fiel ein grüner Samtmantel. Darauf waren alle Blumen gestickt,
die hier oben zwischen den Felsen und unten auf den Bergwiesen
erblühten: Edelweiss und Alpenrosen, Einzian und
Glockenblumen, Vergißmeinnicht und Margeriten. In der Hand
hatte die schöne Fee einen Stab mit Silberglöckchen.
Den schwang sie leise hin und her und von dem lieblichen
Geläut erwachten alle Blumen. Sie hoben ihre Köpfchen
und reckten und streckten ihre Blättchen und die
Bergvöglein im Gesträuch fingen leise zu zwitschern
an. Überall war ein Flimmern und Leuchten und die Rosen am
Busch färbten sich purpurrot. Vroni sah das alles voller
Staunen und ihr kleines Herz füllte sich mit Andacht. Sie
glitt von ihrem Stern herunter und faltete kniend ihre Hände.
Die Bergfee schritt auch an ihr vorüber und legte die Hand auf
ihr Blondköpfchen. "Nun, du kleines Dirnlein" sagte sie, "was
willst du denn schon so früh hier oben in meinem einsamen
Felsental?"
"Ich suche den
Fridolin" sagte Vroni, "oh, sagt mir doch, wo ich ihn finden kann."
"Von dem Fridolin weiß ich nichts" antwortete die Fee, "da
mußt du dort oben den Gletscherkönig fragen. Der
kann von seinem Schloß aus das ganze Tal überblicken
und weiß alles."
Vroni
schaute zu dem gewaltigen Felsen mit dem schimmernden Eisdach hinauf
und ihre Blauaugen füllten sich mit Tränen. "Da
hinauf komm' ich nimmer mit meine wunden
Füß´" schluchzte sie. Da ging die Bergfee
an den nahen Quell und schöpfte Wasser in ihre Hand und strich
leise und lind über Vronis Füßlein. Da
wurden sie geheilt und schmerzten nicht mehr. "Weine nicht Dirnlein,"
sagte die Fee, "ich werde dir helfen." Sie schwang ihre
Silberglöckchen und ein Gamsböcklein kam angesprungen
und blieb demütig vor der Bergfee stehen. "Trage dieses
Dirnlein schön behutsam zum Gletscherkönig hinauf",
befahl ihm die Fee.
Da zuckte
es um Vronis Mündlein und stockend brachte sie hervor: "Der
Gletscherkönig wird mit Eisstücken nach mir werfen,
so sagt der Tobias." "Nein," sagte die Fee tröstend, "das wird
er nicht tun. Nur wenn sich Neugierige seinem Reich nahen wird er
böse. Du solltest ihm auch sagen, daß ich dich
geschickt habe."
Da
beruhigte sich Vroni und ließ sich auf das
Gamsböcklein heben. Die Bergfee löste noch ein
Silberglöcklein von ihrem Stab, gab es Vroni und sagte:
"Läute damit, wenn du Hilfe brauchst." Sie legte noch einmal
die Hand auf Vronis blonde Flechten und das Gamsböcklein lief
mit ihr davon und kletterte den Felsen hinauf. Vroni hielt sich an den
Hörnern des Böckleins fest und wenn das von einem
Felsen zu anderen Hinübersprang, dann schloss sie die Augen,
denn in die schwindelnde Tiefe konnte sie nicht sehen. Der Gipfel des
Felsens war in weiße Wolken gehüllt. Aber auch durch
diese fand das Böcklein seinen Weg und Vroni dachte: Nun kann
ich die schönen weißen Wolken, die ich immer nur so
hoch über mir sah, mit meinen Händen fassen. Auf
einmal blieb das Gamsböcklein stehen und sagte: "Nun sind wir
da."
"Dort hinter
dem Felsvorsprung liegt das Schloß des
Gletscherkönigs." Vroni streichelte dankbar das gute Tierlein
und lief um den Felsen herum. Da lag das Eisschloß des
Gletscherkönigs vor ihr und so weit ihr Auge blickte, sah sie
nur Eis und Schnee. Vor dem Eingang des Eisschlosses standen zwei
Bergmännlein, die hatten weiße Pelzröckchen
an und Pudelmützen auf dem Kopf. Sie fragten Vroni nach ihrem
Begehr und führten sie in die Halle des
Gletscherkönigs. Der saß auf seinem Thron von Schnee
und Eis. Um ihn herum standen Bergmännchen mit
weißen Pelzröckchen und spielten auf Schalmeien. Der
Gletscherkönig hatte einen langen weißen Bart, daran
hingen Eiszapfen und auch von der Nase hingen ihm kleine Zapfen
herunter. Das sah sehr komisch aus und Vroni dachte, wenn der Fridolin
jetzt bei mir wäre, dann müßten wir lachen
und dann würde der König auf uns böse sein.
Mit
klopfendem Herzen ging sie vorwärts und die
Erdmännlein traten zurück und hörten mit
ihrem Spiel auf. Verwundert sah der alte Gletscherkönig auf
sie herab und lachend fragte er: "Wie bist denn du hier herauf zu uns
gekommen, du kleines Menschenkind ?" Vroni antwortete: "Die
schöne Bergfee hat mich mit einem Gamsböcklein
heraufgeschickt und ich wollte, bitt' schön, den Herrn
König nach dem Fridolin fragen." "Der Fridolin ist nicht hier"
sagte der Gletscherkönig. "Ich habe gesehen, wie ihn die
Felsenhexe vor sich hergetrieben hat in ihre Felsenhöhle. Nun
muß er ihre Ziegen hüten." "Ja, wo wohnt denn aber
die Felsenhexe," fragte Vroni. "Auf der anderen Seite des Berges, am
Ende des Gletschers" gab ihr der König zur Antwort. Das war
zuviel für die kleine Vroni. Sie hob ihr zerfetztes
Schürzlein hoch und versteckte ihr Gesichtchen darin und
schluchzte und weinte, daß es einen Stein hätte
erbarmen können. Davon wurden die Bergmännlein so
gerührt, daß sie auch alle in Weinen und Schluchzen
ausbrachen. Sie hatten wohl noch niemals ein so kleines Dirnlein weinen
sehen. Da stand der König auf und sagte zu ihnen: "Nun
hört aber auf mit Weinen, bringt lieber dem Dirnlein ein
warmes Pelzzeug. Es friert und zittert ja am ganzen Leibe." Da liefen
die Bergmännlein davon und brachten der Vroni ein
Pelzröckchen, Pelzstiefelchen und eine Pudelmütze.
Das mußte sie anziehen und nun sah sie selbst aus wie ein
Bergmännlein. Der König faßte ihre Hand und
sagte: "Nun weine nicht mehr und sorge dich nicht, meine
Bergmännlein werden dich im Schlitten bis zum Ende des
Gletschers fahren." Er führte sie hinaus vor die Halle. Da
stand schon ein Schlitten bereit. Zwei Eisfüchse waren davor
gespannt. Die blinzelten Vroni listig an und wedelten fröhlich
mit ihren dicken, buschigen Schwänzen. Man sah es ihnen
richtig an, daß sie sich auf die Fahrt freuten. Vroni stieg
in den Schlitten hinein. Zwei Bergmännlein stellten sich
hinter sie und zwei hielten die Zügel. Dann ging es los. Wie
der Blitz sausten die Füchse über das blauschimmernde
Eis an Rissen und Spalten vorbei. Vroni aber zog ihr
Pudelmützchen noch fester über die Ohren und dachte,
daß so eine Schlittenfahrt doch etwas sehr Schönes
sei.
Am Ende
des Gletschers stieg sie dann aus. Da strahlte die Sonne warm hernieder
und Vroni konnte das Pelzröckchen, Pelzstiefelchen und die
Pudelmütze im Schlitten zurücklassen. Die
Bergmännlein zeigten ihr die Höhle der Felsenhexe und
Vroni stieg auf die Felsplatte hinunter. Die fiel nach allen Seiten
steil ab, nur da, wo die Höhle im Felsen war, führte
ein Weg hinunter zu grünen Matten. Leise schlich sich Vroni an
die Höhle heran und spähte hinunter ins Tal und da
sah sie den Fridolin auf einem Stein sitzen und eine kleine Ziegenherde
kletterte auf dem Bergabhang herum. Als Vroni den Fridolin erblickte,
vergaß sie alle Vorsicht und rief laut seinen Namen. Aber da
kam auch schon die alte Felsenhexe aus ihrer Höhle heraus.
Keifend und schimpfend wollte sie mit ihrer Rute nach Vroni schlagen.
Die läutete aber schnell mit dem Silberglöckchen der
Fee und den Berg herauf kamen eine ganze Menge Gamsböcklein
angestürmt. Die stellten sich vor Vroni und drängten
die alte Hexe hinweg. Hei, wie sie da über die Felsplatte
springen mußte. Sie drohte und schimpfte und sprang vor Wut
in die Luft. Dabei verlor sie ihre Pantoffeln und die Rute. Aber die
Gamsböcklein achteten nicht auf ihr Gezeter und
stießen und pufften sie mit ihren Hörnern bis an den
Rand der Felsenplatte. Da fiel sie mit einem Schrei hinunter in die
Tiefe.
Fridolin
aber hatte gehört, daß jemand seinen Namen rief. Er
sah die Gamsböcklein auf der Felsplatte herumspringen und
kletterte hinauf, um zu sehen was da los sei. Als er aber die Vroni
erblickte, wurde er rein närrisch vor Freude. Er lief auf sie
zu, umfaßte sie und wirbelte sie im Kreis herum. Da sprangen
auch die Gamsböcklein heran und rasten und drehten sich wie
toll um die beiden Kinder. Oben über der Felsplatte aber
standen noch die Bergmännlein und klatschten vor Freude in die
Hände und lachten, daß ihnen die Tränen
über die bärtigen Gesichtlein rollten. Nur mit
Mühe konnten sie die Füchse zurückhalten.
Die hätten gar zu gern den Freudentanz mitgemacht. Auf einmal
stürmten die Gamsböcklein auseinander und rannten den
Berg hinunter. Da winkten auch die Bergmännlein zum Abschied
vom Felsen herab und fuhren mit ihrem Schlitten davon. Da waren die
Kinder nun allein auf der Felsplatte und Fridolin erzählte
Vroni, was er erlebt hatte.
Als er
die Kuh suchte, war ihm auf einmal die Felsenhexe begegnet. "He, du
Bürschlein, du kannst mit mir kommen und meine Ziegen
hüten," sagte sie zu Fridolin. Der wollte davonlaufen, aber
die alte Hexe berührte ihn mit ihrer Zauberrute und da
mußte Fridolin mit ihr hinaufsteigen in die
Felsenhöhle und am Tag mußte er die Ziegen der Hexe
hüten. Da hatte er versucht, zu entfliehen, aber die alte,
böse Hexe hatte mit ihrer Rute einen Zauberkreis um den Berg
gezogen und da kam Fridolin nicht darüber hinweg.
Als
Fridolin seine Erzählung beendet hatte, fiel es der Vroni ein,
daß sie heute noch gar nichts gegessen hatte, denn das
Stücklein Brot, welches sie mitgenommen, war unterwegs
verlorengegangen. Auch Fridolin war hungrig und sie gingen in die
Höhle und aßen und tranken und knabberten, was sie
da fanden. Nüsse und Honig und Milch und Käse. Dann
traten sie den Heimweg an und wollten auch die Ziegen mitnehmen. Doch
es war schwer, den richtigen Pfad zu finden. Da läutete Vroni
noch einmal mit dem Silberglöckchen und ein buntes Voglein kam
angeflogen. "Folget mir nach, ich werde euch den richtigen Weg zeigen,"
zwitscherte es. Und es flog von einem Stein und von einem Strauch zum
anderen. Da waren die Kinder froh und folgten ihm nach.
Plötzlich sagte Fridolin: "Jetzt weiß ich, wo wir
sind, hab' Dank, du liebes Vöglein." Da flog das
Vöglein zwitschernd davon.
Fridolin
aber schickte einen lauten Jauchzer in die Berge und auf einmal
hörten die Kinder einen Ruf aus der Ferne. Als sie noch ein
Stück weitergelaufen waren, sahen sie den Achenhofbauern mit
Jürgen, dem Großknecht, daherkommen. Sie hatten sich
von der Alm aus aufgemacht, die Kinder zu suchen. Da war die Freude
groß. Der Achenhofbauer drückte seinen Buben fest
ans Herz und Jürgen nahm sein Dirnlein auf den Arm und
ließ es nicht wieder herunter. Er hatte wohl bemerkt, wie
sauer der kleinen Vroni das letzte Stücklein Weg wurde. Vor
der Sennhütte standen Tobias, Kathrin und der
Hütebub. Als Vroni den Tobias sah, sprang sie von ihres Vaters
Arm herunter und sagte zu dem alten Senn: "Der Gletscherkönig
hat aber nicht mit Eisstücken nach mir geworfen."
Dann
saßen sie alle vor der Sennhütte und Vroni
erzählte ihr Abenteuer. Als sie geendet hatte, stand dem
Tobias, der Kathrin und dem Seppl der Mund weit offen vor Staunen. Der
Achenhofbauer aber nahm Vronis Hand und sagte: "Das vergess' ich dir
nimmer, Dirnlein."
Jahre
sind darüber vergangen und Vroni ist Fridolins
glückliche Frau geworden und sie hat als Bäuerin
geschaltet und gewaltet. Zwei herzige Dirnlein und zwei rotbackige
Buben hat sie dem Fridolin geschenkt und wenn die Kinder einmal gar so
laut durch das Haus tollten und lärmten, dann holte Vroni das
Silberglöckchen aus dem Glasschrank und läutete
damit. Da kamen sie alle so schnell angesprungen, wie einstmals die
Gamsböcklein und sie wurden mäuschenstill, denn die
Mutter setzte sich nieder und erzählte, wie sie einst als
kleines Dirnlein den Vater gesucht hatte. Und wie die
wunderschöne Bergfee und der alte Gletscherkönig ihr
geholfen hatten, den Vater aus dem Zauberkreis der alten bösen
Felsenhexe zu befreien.
Das
Blumenmütterchen
Hoch
über dem Städtchen, auf dem alten Glockenturm, wohnte
die kleine Cornelia. Ihr Vater hatte sie dort hinaufgebracht, weil er
aus Gram über den frühen Tod von Cornelias Mutter in
die Welt hinausziehen wollte. „Sei nicht traurig,“
sagte er zu dem weinenden Kind, „ich komme wieder.“
Die Glockentürmersleute waren Verwandte von Cornelias Vater,
sie waren alt und mürrisch und hatten niemals Kinder gehabt.
Deshalb wußten sie nicht viel mit der kleinen Cornelia
anzufangen. Sie gaben ihr zwar zu essen und zu trinken, aber sonst
kümmerten sie sich nicht viel um sie. So lebte denn das
goldlockige Kind wie ein verwunschenes Prinzeßlein.
Stundenlang stand sie draußen auf dem Umlauf des Turmes und
sah in den Himmel hinein, oder sie lauschte auf den Lärm
spielender Kinder, der vom Kirchplatz zu ihr herauf drang. Hinunter
wagte sie sich nicht, denn die Treppe war steil und finster und als sie
mit dem Vater heraufgestiegen war, hatte sie beim Schein der Laterne
gesehen, wie häßliche graue Spinnen an den
Wänden herum krochen, und wie hier und da eine Fledermaus
aufflatterte. Sie hatte nichts, woran sie ihr kleines Herz
hängen konnte, aber eines Tages entdeckte sie ein paar
verkümmerte Blumenstöckchen und an die verschwendete
sie nun ihre ganze Liebe. Sie pflegte und tränkte sie, band
die herniederhängenden Zweiglein fest und schleppte sie hin
und her, um sie vor rauhem Wind und zu grellem Sonnenlicht zu
schützen. Die Turmschwalben, die das sahen, sagten:
„Sie ist wie ein richtiges
Blumenmütterchen!“, aber die Blumen dankten ihr auch
für ihre Liebe und grünten und blühten, und
bald hatte Cornelia ein kleines Blumengärtlein um sich. Das
war nun ihre größte Freude und sie redete mit den
Blumen, als wenn es ihre Kinder wären. Auch im Winter sorgte
sie für ihre Lieblinge und fand ein geschütztes
Plätzchen drinnen im Turm.
Nun war
es schon zum drittenmale Frühling geworden und Cornelias Vater
war immer noch nicht heimgekehrt. Traurig saß sie zwischen
ihren Blumenkindern draußen vor dem Turm und schaute zu dem
blauen Frühlingshimmel hinauf, an welchem weiße
Wölkchen daherzogen. „Ach,“ seufzte sie,
„wenn ich doch mit euch dahinziehen
könnte.“ Da sah sie, wie ein Wölkchen sich
von den anderen löste und immer tiefer herunterschwebte. Vor
dem Eisengitter des Turmes stand das Wölkchen still. In dem
Wölkchen aber war ein weißes Schifflein. Darin
saß ein schönes Kind. Das hatte ein Kleidchen an so
blau wie der Himmel und an den Schultern waren ihm zwei
glänzende Flügel gewachsen. „Komm mit,
kleine Cornelia,“ sagte das schöne Kind. Cornelia
zögerte und ihr Herzchen klopfte laut. „Komm mit,
kleine Cornelia“ sagte das schöne Kind noch einmal
und streckte ihr beide Hände entgegen. Da lief Cornelia zu
ihren Blumen, streichelte sie und sagte: „Seid nicht traurig,
ich komme wieder,“ wie ihr Vater gesagt hatte. Dann kletterte
sie auf ihr Stühlchen, ergriff die dargebotenen Hände
des Kindes und schwang sich in das Schifflein hinein. Das hob sich
schnell wieder in die Höhe und als Cornelia unter sich
blickte, sah sie die roten Ziegeldächer und grünen
Gärten des Städtchens nur noch wie rote und
grüne Tupfen unter sich liegen. Dann sah sie garnichts mehr,
nur noch strahlende Himmelsbläue und weiße
Wolkenschifflein. Überall saßen schöne
Kinder darin, die lachten und sangen und riefen einander
fröhliche Grüße zu. Nun erst fand Cornelia
ihre Sprache wieder und leise fragte sie: „Seid ihr Engelein
und bin ich nun gestorben? Mein Vater hat mir erzählt,
daß die Engel meine Mutter in den Himmel getragen
hätten.“ „Nein“ sagte das
schöne Kind, „wir sind keine Engel. Die wohnen noch
hoch und weit über uns. Wir sind nur Wolkenelflein und ich
heiße Silberflöckchen. Und du bist auch nicht
gestorben. Aber die Turmschwalben haben mir von dir erzählt
und ich habe dich so oft einsam und traurig auf dem alten Glockenturm
stehen sehen. Deswegen habe ich dich geholt und du sollst nun eine
Weile bei uns bleiben, damit du wieder fröhlich
wirst.“
So flogen
sie über einen großen Wolkenberg und hinter diesem
lag ein weißes Haus, das hatte ein gläsernes Dach.
„Hier wohnen wir“ sagte Silberflöckchen.
Sie stiegen aus ihrem Schifflein aus und liefen über eine
Brücke in das Haus hinein. Das war voller lachender,
schwatzender Wolkenelflein. Die saßen an einer langen Tafel
und aßen von goldenen Tellern und tranken aus goldenen
Bechern. An den Wänden standen viele kleine Bettchen mit
seidenen Kissen. Alles wurde im Saal mäuschenstill, als die
beiden Kinder eintraten und Silberflöckchen sagte:
„Das ist das Blumenmütterchen, von dem uns die
Turmschwalben erzählt haben.“ Da sprangen alle
Elflein auf und herzten und küßten Cornelia. Sie
mußte mit an der Tafel sitzen und bekam von einem goldenen
Teller süßen Kuchen zu essen und Honigseim zu
trinken. Dann mußte sie von der Erde erzählen und
jedes Elflein wollte etwas anderes wissen. Cornelia war
glücklich, das erstemal seit dem Tode der Mutter, und als die
Elflein ihre kleinen Harfen, Flöten und Geigen holten und
spielten und sangen, da meinte sie, daß es bei den Engelein
im Himmel nicht schöner sein könne.
Draußen
wurde es nun dunkel und die Elflein hüpften und
schlüpften in ihre seidenen Bettchen. Cornelia durfte neben
Silberflöckchen liegen. Die Elflein schliefen bald ein. Sie
waren wohl müde von dem Umhertollen am Tage. Cornelia aber lag
noch eine ganze Weile wach, und sie sah durch die gläserne
Decke, wie hoch über ihr die goldenen Sterne aufblitzten. Dann
sah sie einen Mann hinter einer Wolke hervortreten. Eine Herde
Silberschäflein trieb er vor sich her. Der Mann hatte ein
gutes Gesicht. Es leuchtete und glänzte. Cornelia dachte, das
kann nur der gute Mond sein und sie fühlte sich auf einmal
wohlgeborgen und schlief sanft und ruhig ein.
Am anderen Morgen erwachte
sie von einem hellen Schimmer. Hoch über ihr trat aus einem
rosenroten Wolkentor eine schöne, stolze Frau heraus. Sie hatte
einen goldenen Mantel an und eine Strahlenkrone auf dem Kopfe.
„Das ist die Frau Sonne,“ sagte Silberflöckchen,
„sie macht jetzt einen Rundgang um den Himmel. Dann wird heute
wieder ein schöner Tag und wir können hinausfliegen.“
Es folgten noch viele schöne Tage und Cornelia flog fröhlich
mit den Wolkenelflein am blauen Himmelszelt hin und her. Ihre Augen
strahlten und die goldenen Haare, welche die Glockentürmerfrau in
zwei steife Zöpfchen gezwängt hatte, ringelten sich wieder in
Locken um ihr Gesicht. Wären ihr Flügel gewachsen, man
hätte sie für ein Wolkenelflein halten können, so
lieblich war sie anzusehen. Man nannte sie nur Blumenmütterchen
und das hörte Cornelia gerne, denn die Elflein hatten alle so
schöne Namen, da war Goldsternchen und Silberflöckchen und
Tauperlchen und Himmelsröschen und Huschewind und Rackerchen und
Tausendschön und Marienblümchen. Die Elflein waren alle sehr
lieb zu Cornelia und sie mußte mit jedem einmal im Schifflein
fliegen. Es gab aber auch Tage so sie daheim bleiben mußten. Da
kamen dicke, graue Wolken angezogen und hüllten das weiße
Haus ein. Aus den Wolken heraus aber flogen Elflein, die waren in graue
Kittelchen gehüllt und hatte Spritzen und Gießkannen bei
sich. Damit spritzten und planschten sie am Himmel herum, daß es
nur so eine Art hatte. „Nun regnet es auf der Erde.“ sagte
Cornelia. „Da laufen die großen Leute mit einem Regendach
hin und her und die Gassenbuben patschen in den Pfützen
herum.“ Aber die Wolkenelflein, die sonst so gerne von der Erde
erzählen hörten, ließen ihr Köpfchen hängen
und Silberflöckchen sagte, wenn doch der Wind käme und die
Nichtsnutze verjage. Der Wind kam mit fliegendem Mantel und einem
großen Stecken in der Hand. Damit jagte er die
übermütige Gesellschaft auseinander. Sie verspritzten
kichernd ihr letztes Naß und flogen davon. Dann riß der
Wind mit seinem Stecken die grauen Wolkenvorhänge auseinander. Der
blaue Himmel lugte hervor und ein Stück von dem goldenen Mantel
der Frau Sonne. Hei, wie jauchzten da die Wolkenelflein und flogen
schnell wieder hinaus. Aber nun ließ Cornelia ihr Köpfchen
hängen. An den Regentagen war die Sehnsucht nach der Erde
über sie gekommen, und eines Tages sagte sie: „Es ist sehr
schön bei euch hier oben, aber bringt mich wieder auf die Erde
zurück. Mein Vater würde traurig sein, wenn er heimkommt und
mich nicht findet.“ Da weinten die Elflein und bettelten
Cornelia, sie möchte doch noch bei ihnen bleiben.
Silberflöckchen aber sagte: „Macht doch dem
Blumenmütterchen das Herz nicht so schwer. Immer kann sie nicht
hier oben bleiben und einmal muß geschieden sein. Wir wollen sie
morgen auf die Erde zurückbringen und den Wind bitten, daß
er uns den richtigen Weg zeigt.“
Cornelia hatte richtig
geahnt, ihr Vater war wirklich heimgekehrt. Er hatte Glück gehabt
in der Fremde und war als wohlhabender Mann zurückgekommen. Sein
erster Weg führte ihn auf den alten Glockenturm. Aber sein Schmerz
und seine Enttäuschung waren sehr groß, als er von Cornelias
Verschwinden hörte. Auch die Glockentürmersleute waren
traurig, als Cornelia nicht mehr bei ihnen war, so hatten sie erst
gemerkt als sie fort war, daß sie das feine stille Kind doch von
Herzen liebten. Vielleicht kommt sie eines Tages genau so schnell
zurück, wie sie verschwunden ist, versuchten sie den Vater zu
trösten.
Der Vater kaufte vor der
Stadt ein kleines Haus, das mitten in einem blühenden Garten stand
und an einem schönen Sommertag zog er ein. Beim Anblick der bunten
Sommerblumen dachte er an Cornelia. Die hatte schon als ganz kleines
Kind die Blumen inniglich geliebt. Traurig sah er zu dem blauen
Sommerhimmel hinauf. Weiße Wölkchen zogen daher und senkten
sich immer tiefer herunter auf die Wiese, die vor dem Garten lag. Der
Vater trat hinaus und sah zu seinem größten Erstaunen, wie
geflügelte Kinder aus dem Wölkchen sprangen. Sie faßten
sich an den Händen und bildeten einen Kreis um ein kleines
goldlockiges Mädchen, welches in der Mitte stand. Dann herzten und
küßten sie das Kind und sprangen wieder in die Wölkchen
hinein. Die hoben sich schnell wieder in die Höhe und das kleine
Mädchen winkte ihnen mit beiden Händen nach. Dann drehte es
sich herum und der Vater erkannte seine kleine Cornelia. Laut rief er
ihren Namen und Cornelia flog jubelnd auf ihn zu. Ihre Freude kannte
keine Grenzen, als er sie dann in das Häuschen führte. Sie
liebkoste jede Blume, streichelte die alte Magd und fiel dem Vater
immer wieder um den Hals. Die Freude war groß, als sie am anderen
Tage zur Turmstube hinaufstiegen und die Glockentürmersleute
konnten sich nicht sattsehen an dem strahlenden Gesicht ihres einstigen
Schützlings.
Als Cornelia dann von ihrem
Besuch bei den Wolkenelflein erzählte und von Goldsternchen und
Silberflöckchen und Tauperlchen und Himmelsröschen und all
den anderen plauderte, kamen sie aus dem Staunen nicht heraus. Dann
aber wollte Cornelia ihre Blumen sehen. Sie grünten und
blühten, denn die Türmersfrau hatte sie getreulich weiter
gepflegt. Darüber war Cornelia sehr froh und sie redete mit ihnen,
wie eine Mutter, die zu ihren Kindern heimgekehrt ist. „Das
Blumenmütterchen ist wieder da“ zwitscherten die
Turmschwalben und sie erzählten es überall unten im
Städtchen. Da wollten alle Leute an der Wiedersehensfreude
teilnehmen. Nach und nach zog alt und jung hinaus, um Cornelia und
ihren Vater zu begrüßen.
Die beiden lebten sehr
glücklich und Cornelia wuchs heran zu ihres Vaters Freude. Alle
Leute hatten sie gern und man nannte sie nur das
„Blumenmütterchen“. Die Schwalben hatten aber auch
recht, ihr diesen Namen zu geben, denn weit und breit blühten
nirgends die Blumen so schön, wie in dem kleinen Garten
draußen vor der Stadt. Und unter Cornelias fleißigen
Händen wurde er zu einem wahren Wundergärtchen.
Dieser Betrag wird zu Gunsten der Herausgabe eines
Märchenbuches der Gebrüder Schäffler (7
Märchen) verwendet, dass im Hause ÓErmasch-Presse-Service Schäffler mit
Unterstützung von "UrlaubsSpass.de", dem Künstler
Marcel Schäffler, der Künstlerin Ingrid Troebst und
HOLIDAY ON ICE erscheinen wird. Das Buch soll für einen guten
Zweck, zunächst Hamburger Kindergärten und
Krankenhäuser, kostenlos zur Verfügung gestellt
werden.
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Für Sie entdeckt und zusammengestellt durch
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Text: Eric & Marcel
Schäffler, Helmut Boerner.
Lektorin: Monika Friedmann.
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