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| Zahnmedizin in Theorie und Praxis | Dr. Ute Maier
Bevor ich mich aktiv mit berufspolitischen Themen beschäftigt habe, war ich mir gar nicht im Klaren darüber, welches Privileg die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen eigentlich darstellt. Ich nahm sie zur Kenntnis wie die anderen Varianten der Selbstverwaltung, die im deutschen Sozial- und Rechtsstaat verankert sind und die man allgemein kennt: die kommunale Selbstverwaltung oder die der Hochschulen und Universitäten. Wie groß das Privileg ist, wird erst klar, wenn man die Entstehung von Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen unter historischen Aspekten betrachtet. Dann wird deutlich, wie mühsam erkämpft und wie bedroht diese historische Errungenschaft ist, die für die Zahnärzte seit genau 75 Jahren besteht. Vorher war es über Jahrzehnte das Bestreben der in privatrechtlichen Vereinen und Verbänden organisierten Ärzte- und Zahnärzteschaft, Strukturen zur Selbstkontrolle zu errichten. Man wollte erreichen, dass die staatlichen Behörden auf ihr bisher ausgeübtes Aufsichtsrecht über den einzelnen Arzt verzichten. Mehr Autonomie für die Ärzte und ein einheitliches Handeln war das Ziel der verschiedenen Ärzteverbände, die das sogar mit einem Generalstreik durchzusetzen versuchten. Und sie hatten damals schon die gleichen Argumente, die wir auch heute noch ins Feld führen, wenn es um die Legitimation von Selbstverwaltung geht: Sie stellt die Bürger- und Betroffenennähe her, sie kann die Macht eines potenziell zentralistischen Staates relativieren und zu einer Senkung der Staatsquote führen. Voraussetzung für das Funktionieren der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist, dass sie nicht nur große Ziele vorgibt, sondern sie auch vorlebt. Die Verantwortlichen müssen, um glaubhaft zu bleiben, im Interesse des Patienten handeln und das Funktionieren eines größeren Ganzen im Auge haben. Dazu gehört u.a. das Interessengleichgewicht zwischen Ärzten und Krankenkassen, das auch der Gesetzgeber verlangt. Nicht umsonst hat er auf Privilegien verzichtet und in der Selbstverwaltung der ärztlichen Professionen eine Regulierungsoption zum Wohle der gesamten Gesellschaft erkannt. Gerade auf dem äußerst sensiblen Gebiet der Gesundheit hat man sich für das Subsidiaritätsprinzip entschieden. Subsidiarität bezeichnet eine gesellschaftliche und politische Maxime, wonach Hilfe für ein Individuum oder für eine Gruppe erst dann einsetzen soll, wenn die Kräfte zur Selbsthilfe nicht mehr ausreichen. In diesem Sinne regelt sie auch das Verhältnis kleinerer sozialer Gemeinschaften zu jeweils größeren. Sie verleiht der kleineren Gemeinschaft das Recht, unbegründete Hilfe - aber auch Eingriffe - der Größeren abzuweisen, wie es andererseits die Größeren verpflichtet, die jeweils kleinere Gemeinschaft bei der Erhaltung ihrer Kräfte und Selbsthilfemöglichkeiten zu unterstützen. Das sollte man sich noch einmal ins Gedächtnis rufen. Kommen wir nun zu den Grundlagen, die zur Herausbildung von Kammern und kassenzahnärztlichen Vereinigungen führten. Es war eine Art Vertrag zwischen der Ärzte- und Zahnärzteschaft und der Gesellschaft, in dem im Tausch gegen qualifizierte und kompetente Leistung den Ärzten und Zahnärzten • Freiheit von sozialer Kontrolle durch Laien • Schutz gegen unqualifizierten Wettbewerb • ein ordentliches Einkommen und ein entsprechendes Prestige versprochen wurde. Damit wird deutlich, dass die Selbstverwaltung keine ausschließliche Angelegenheit der ärztlichen Berufsstände ist. Selbstverwaltung ist gleichzeitig und vor allem ein der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl verpflichtetes Prinzip. Diese Gemeinwohl-Verpflichtung hat der Vorstand der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg 2006 bei der Verabschiedung eines sog. Public Governance Codex unterstrichen. In den Mittelpunkt gerückt hat er damit auch das zutiefst demokratische Prinzip, das dem oben genannten Vertrag zwischen Ärzteschaft und Gesellschaft zugrunde liegt. Darum heißt es in diesem Codex: „Eine Selbstverwaltung, in der die Beteiligten durch gesetzliche Verordnung ihren Sachverstand nicht mehr einbringen können, wird weder den angestrebten Nutzen für die Bevölkerung erreichen, noch die dafür erforderliche Akzeptanz bei den Heilberufen finden". Weiter wird betont:„Die Vertreterversammlung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg ist mit dem Bekenntnis zur Selbstverwaltung und den damit verbundenen Aufgaben den Absichten des Gesetzgebers entgegen getreten, die Körperschaften durch gesetzlichen Zwang ausschließlich nach rein privatwirtschaftlichen Konzepten umzustrukturieren und die demokratische Beteiligung der Betroffenen wegfallen zu lassen." Mit der Selbstverpflichtungserklärung der baden-württembergischen Kassenzahnärztlichen Vereinigung wird die bisher bestehende demokratische Beteiligung von praktizierenden Zahnärztinnen und Zahnärzten in den Gremien der Körperschaft beibehalten. Dies geschieht, um in Baden-Württemberg für alle Beteiligten – Patienten, Versicherte, Angehörige der Gesundheitsberufe – weiterhin ein optimales Ergebnis zu erreichen. Um die Strukturen und die daraus resultierenden Konflikte zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Er zeigt, dass sich die derzeitigen Konflikte wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sozialgesetzgebung ziehen. Seit Einführung des Arbeiterkrankenversicherungsgesetzes besteht zwischen der Ärzteschaft, den Krankenkassen und dem Staat ein Spannungsfeld, in dem die Einflussmöglichkeiten – je nach äußeren Verhältnissen – sich mal in die eine und mal in die andere Richtung verlagern. In der Anfangsphase der gesetzlichen Krankenversicherung gab es nach Inkrafttreten der Bismarckschen Sozialgesetzgebung 1883 Einzeldienstverträge zwischen den verschiedenen Krankenkassen und den Ärzten. Die Vertragsbedingungen konnten wegen der großen Zahl verfügbarer Ärzte/Zahnärzte durch die Krankenkassen vorgegeben werden. Dadurch gerieten die Ärzte zunehmend in eine finanzielle Abhängigkeit. Als Reaktion auf die einseitige Machtverteilung gründeten die Zahnärzte diverse Standesvertretungen, z. B. 1891 den Vereinsbund Deutscher Zahnärzte. Er sollte ihre Rechtsposition gegenüber den Krankenkassen wirksamer wahrnehmen als es ein einzelner Arzt tun könnte. Streikähnliche Auseinandersetzungen zwischen Ärzten/Zahnärzten und Krankenkassen, die den sozialen Frieden im allgemeinen und die Versorgung der sozialversicherten Bevölkerung im besonderen gefährdeten, waren das Resultat der bedrückenden Zustände. Nach einem Generalstreik der deutschen Ärzteschaft im Jahr 1913, an dem sich auch viele Zahnärzte beteiligten, entstand die erste Selbstverwaltungsorganisation im deutschen Gesundheitswesen. Es war der zentrale Ausschuss, der spätere Reichsausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Er war für die Zulassung, für die Vertragsausgestaltung der Einzeldienstverträge und für Schiedsverfahren zuständig. Den Zahnärztevertretern war es allerdings nicht gelungen, Vertragspartner zu werden. Sie waren weiterhin darauf angewiesen, ihre Ziele in freien Vertragsverhandlungen mit den Kassen zu erreichen. Doch langsam wurden auch die Zahnmediziner selbstbewusster: 1919 wurde die Zahnheilkunde als Spezialfach der Medizin anerkannt und auch die Promotion als Dr. med. dent. eingeführt. 1933 gab es dann auch eine Kassenzahnärztliche Vereinigung Deutschlands. Das Reichsarbeitsministerium bestimmte die neue Körperschaft des öffentlichen Rechts zum alleinigen „Träger der Beziehungen der Kassenzahnärzte zu den Krankenkassen“ und übertrug ihr eine Reihe von Aufgaben: • und vor allem die Verteilung der von den Krankenkassen gezahlten Vergütungen. Dennoch wandelte sich mit den politischen Verhältnissen auch der Charakter der Institution von einer Interessenvertretung der Ärzte zu einem Instrument des Staates. Gleichgeschaltet überstand die Kassenzahnärztliche Vereinigung Deutschlands den Zweiten Weltkrieg und existierte 1945 zunächst weiter, war jedoch funktionsunfähig. Deshalb musste die zahnärztliche Versorgung durch regionale Organisationseinheiten sichergestellt werden. Seit 1955 gibt es sie wieder als demokratische, föderalistische und selbstverwaltete Körperschaften. Sie sind die Interessenvertretung der niedergelassenen Kassenärzte - seit 1993 heißt es: der Vertragsärzte. Die kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen leben auf Grund ihres Selbstverständnisses und ihres satzungsgemäßen Auftrages in einem Dilemma: Sie verstehen sich als genossenschaftlicher Zusammenschluss der Vertragsärzte und übernehmen deren Interessenvertretung. Zugleich haben sie als mittelbare Staatsgewalt hoheitliche Aufgaben. Für ihre Mitglieder halten sie eine Reihe von Dienstleistungen bereit - für den Staat haben sie ordnungspolitische Funktionen. Von ihrem Selbstverständnis her betrachten sich kassenärztliche und kassenzahnärztliche Vereinigungen als aktive Mitgestalter bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Zugleich sind sie als Körperschaft des öffentlichen Rechts unter Rechtsaufsicht des Staates in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Ein Blick in die Zukunft muss daher diesen Doppelcharakter berücksichtigen. Dennoch bleibt die Frage nach der künftigen Rolle der kassenärztlichen Vereinigungen eng verknüpft mit der Frage nach der zukünftigen Steuerungsfunktion im Bereich der ambulanten Medizin. Soll diese Funktion vom Staat, den Krankenkassen, der Selbstverwaltung oder den Kräften von Markt und Wettbewerb übernommen werden? Will man die kassenärztlichen Vereinigungen und damit das Prinzip Selbstverwaltung wirklich abschaffen, dann müsste es dazu klare, realisierbare Alternativen geben. Denn ohne eine übergeordnete Steuerung würde das in einem hohen Maß arbeitsteilig gegliederte ambulante Versorgungssystem auseinander fallen. Die Geschichte zeigt, dass alte Grundpositionen, Forderungen und Streitpunkte seit Bismarck bis in unsere Zeit hinein immer wieder in neuem Gewand wiederkehren: Einzelvertragssystem versus Kollektivvertragssystem, Einzelkrankenkassen versus Krankenkassenverbände, Einzelärzte versus Kassenärztliche Vereinigungen und so weiter. Die Geschichte zeigt aber auch: Das Gesundheitswesen ist in seiner Ausgestaltung in hohem Maße abhängig von einer Reihe äußerer Faktoren. Hierzu zählen vor allem Konjunktur, Beschäftigungsgrad und Regierungsverhältnisse. Entscheidungen fallen in diesem außerordentlich fragilen System auf Grund von Machtkonstellationen und Partialinteressen. Und je mehr die Wirtschaft krankt, desto stärker ist das Gesundheitswesen dem ökonomischen Diktat unterworfen. Und es gibt zudem eine gesellschaftspolitische Dimension: Je mehr sich in der Gesellschaft der Eindruck verstärkt, die berufsständisch organisierte Ärzteschaft nutze in weiten Bereichen die ihr zugestandene Selbstverwaltung zur „individuellen Nutzenmaximierung”, desto stärker fühlten sich die politischen Parteien dazu aufgerufen, in das Gesundheitswesen einzugreifen - mit ordnungspolitischen Maßnahmen und mit wahltaktischen Überlegungen. So ist es ein immer wiederkehrendes Ritual der politischen Parteien, auf die Eigenverantwortlichkeit der Ärzte und Zahnärzteschaft dann zu verweisen, wenn man selbst die Verantwortung von sich schieben möchte. Eine totale Konfrontationsstrategie, deren Ziel es sein sollte, der verstärkten staatlichen Steuerungstendenz durch einen weitestgehenden Ausstieg aus dem entwickelten System der Gesundheitsversorgung auszusteigen, scheint vielen die Lösung zu sein. Unter dem Etikett einer Wiederherstellung der gleichberechtigten Zweierbeziehung zwischen Arzt und Patient sollte durch „marktvermittelte Konkurrenz” der sog. Kostenexplosion begegnet werden. Dabei sollte man wissen, dass die Steuerung des Marktes bei besonderen Gütern, wie sie die Gesundheit nun einmal darstellt, in der Regel nicht zu einem gleichmäßigen Versorgungsniveau für alle führt. Gerade chronisch Kranke und alte Menschen verfügen nicht über die Mobilität, Flexibilität und die Informationsmöglichkeiten jüngerer Versicherter. Überlässt man die Steuerung ausschließlich den Kräften von Markt und Wettbewerb, dann führt dies zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung in Abhängigkeit von individuellen Möglichkeiten und dem sozialen Status. Selbst Befürworter einer Steuerung durch Markt und Wettbewerb sehen zusätzlichen Regulierungsbedarf, wenn nämlich definierte Ziele der flächendeckenden Versorgung über den Vertragswettbewerb nicht abgedeckt werden. Der Staat scheint durchaus bereit zu sein, die Zahnärzte aus der Pflichtmitgliedschaft der kassenzahnärztlichen Vereinigungen zu entlassen. Allerdings wird der dann „freie” Zahnarzt am Markt nicht auf den Marktteilnehmer Patient stoßen. Von seiner berufsständischen Solidargemeinschaft befreit, wird er sich als alleiniger und allein stehender Vertragspartner der Krankenkassen wiederfinden, die unter Ausnutzung ihrer Marktmacht ärztliche und zahnärztliche Leistungen zu Schnäppchenpreisen einkaufen. Dass ein feingliedriges, flächendeckendes System mit dem „Zahnarzt vor Ort“ auf diese Weise aufrecht erhalten werden kann, glaube ich nicht, weil der Zahnarzt als freier, mittelständischer Unternehmer einen „Betrieb“ erfolgreich zu führen hat, Angestellte zu entlohnen hat und vieles mehr. So gesehen schützt die Selbstverwaltung im Interesse der Patienten dieser Art der patientennahen Versorgung. Mein uneingeschränktes Bekenntnis zur Selbstverwaltung begründet sich in der Historie und weist in die Zukunft: Ich bin der Meinung, dass die kassenärztlichen und zahnärztlichen Vereinigungen zukünftig noch mehr als bisher Eckpfeiler eines solidarischen Gesundheitswesens sein müssen. Sie müssen zudem verstärkt eine gesundheitspolitische Verantwortung für den gesamten ambulanten Versorgungsbereich übernehmen.
Dazu gehören • die Einhaltung des Sicherstellungsauftrags einschließlich des Bereitschaftsdienstes • und die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Durchführung der Versorgung. Außerdem obliegt den Selbstverwaltungsorgangen • der Abschluss der Gesamtverträge und von Verträgen zu Modellvorhaben auf Landesebene • sowie die Verteilung der Gesamtvergütung • und die Prüfung der vertragsärztlichen Abrechnungen. Hauptaufgabe der Kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen muss es außerdem sein, die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aktiv mitzugestalten. Positionen hierzu müssen in erster Linie abgeleitet werden vom Versorgungsbedarf im Bereich von Prävention und kurativer (Zahn-)Medizin. Die Kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen können hier jedoch nur gesundheitspolitische Verantwortung übernehmen, wenn der Gesetzgeber ihnen auch zukünftig eine mitgestaltende Rolle zugesteht. Hier ist die Politik derzeit in der Bringschuld. Die Kassenzahnärztliche Vereinigung – insbesondere in Baden-Württemberg – ist fachlich, ökonomisch, gesundheitspolitisch gut aufgestellt, um auch in Zukunft den Herausforderungen im Spannungsfeld von Solidarität und Subsidiarität in der Krankenversicherung Rechnung zu tragen. Dafür ist es aber notwendig, dass in einem Europa der Regionen den Selbstverwaltungen mehr föderale Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden und damit zentralistischen Tendenzen Grenzen aufgezeigt werden. Internet: www.lzk-bw.de Internet: www.zahn-forum.de |
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